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Künftig dürfen Jugendliche keinen Zugang zu Büchern, Broschüren, Aufklärungskampagnen und Werbung haben, in denen Sexualität dargestellt wird, die nicht heteronormativ ist.
Seit März 2020 verabschiedete das ungarische Parlament mehrere Gesetze, die die Rechte von queeren und trans Personen einschränken. Zuerst wurde es trans Personen verboten, ihr Geschlecht legal anerkennen zu lassen. Es folgte ein weiteres Gesetz, in dem es heißt: Der Vater ist ein Mann und die Mutter eine Frau. Queere und alleinstehende Personen dürfen seitdem keine Kinder mehr adoptieren.
Das aktuelle Gesetz ist Teil eines Pakets, das Strafverschärfungen für sexualisierte Gewalt an Kindern und ein Verbot der "Propagierung" von Homosexualität miteinander vermischt. Seit Jahren verknüpft die Regierungspartei Fidesz die Themen Homosexualität und Kinderschutz. In der Debatte um ein Kinderbuch mit unter anderem queeren Figuren sagte Premierminister Viktor Orbán: "Lasst unsere Kinder in Ruhe."
Aktivist*innen kritisieren, dass die neue Gesetzeslage queere und trans Personen in Gefahr bringt. Sie befürchten, dass die Gewalt gerade auch gegen Jugendliche, die nicht cis und/oder hetero sind, zunimmt. Tausende protestierten am Montag vor dem ungarischen Parlament und forderten, den Gesetzesentwurf zurückzunehmen. Nur einen Tag später stimmten 157 von insgesamt 199 Abgeordneten im ungarischen Parlament für das Gesetz. Wir haben mit Betroffenen darüber gesprochen, wie sie die Situation in Ungarn wahrnehmen.
Jóci, 36, Rom*nja- und LGBTIQ-Aktivist
Als ich gesehen habe, dass das neue Gesetz umgesetzt wurde, hat sich das einfach nur surreal angefühlt. Ich selbst bin Rom und schwul. Als ich ein Teenager war, also in den frühen Nullerjahren, habe ich im Fernsehen niemals jemanden gesehen wie mich. Ich wurde in eine arme Arbeiter*innenfamilie hineingeboren, wir hatten keinen Computer und kein Internet. Damals habe ich mich so unfassbar einsam gefühlt. Ich dachte wirklich, ich bin der einzige schwule Rom auf der Welt. Ich hatte keine Ahnung, dass es tatsächlich eine Gemeinschaft geben könnte, die einen unterstützt und Erfahrungen teilt. Also habe ich meine Queerness verdrängt. Erst mit 22 oder 23 habe ich angefangen, darüber zu lesen, andere getroffen und es meinem allerbesten Freund erzählt.
Ich habe in Budapest oft verbale Misshandlungen erlebt. Menschen haben mir Sachen ins Gesicht gesagt wie "Z*-Schwuchtel" oder "Schleich dich nach Hause, verdammter schwuler Muslim". Weil ich nicht weiß bin, lesen mich viele als Einwanderer. Heute arbeite ich für eine Gruppe, die queere und feministische Romn*ja-Bildungsarbeit macht. Die neue Generation soll nicht die gleichen furchtbaren Erfahrungen machen wie ich damals. Erst vor Kurzem hat sich wieder ein 13 Jahre alter Rom auf dem Land das Leben genommen, weil er nicht ertragen konnte, in dieser Welt schwul zu sein. Es bricht mir das Herz. Die jungen Menschen werden einfach komplett alleingelassen.
Ich dachte wirklich, ich bin der einzige schwule Rom auf der Welt.
Jóci
In Budapest habe ich noch nie schwule oder lesbische Paare gesehen, die sich in der Öffentlichkeit an der Hand halten. Und ich dachte immer, dass das einfach eine persönliche Sache wäre. Ich habe mir eingeredet, dass ich, auch wenn ich hetero wäre, in der Öffentlichkeit mit meiner Partnerin nicht zärtlich sein wollen würde. Einfach weil ich eher zurückhaltend bin. Irgendwann habe ich bemerkt, dass das vielleicht gar nicht stimmt. Sondern dass ich einfach internalisiert habe, dass schwule Zärtlichkeit etwas Obszönes ist, das man nicht in der Öffentlichkeit macht. Diese Vorurteile stecken in mir drin.
Das neue Gesetz wird so etwas natürlich verstärken. Es verändert unser Leben. Es ist emotional und mental unendlich anstrengend, in so einem Land zu leben. Es belastet die psychische Gesundheit von Queers. Unsere Sicherheit wird immer mehr bedroht. Die militanten Gruppen der rechtsradikalen Partei Mi Hazánk [Unsere Heimat, Anm. der Red.] laufen ja jetzt schon rum und bedrohen vulnerable Gruppen. Sie sind angsteinflößend. Und genau diese aggressiven Personen werden durch solche Gesetze bestätigt.
Auf die Polizei kann man sich nicht verlassen, als Rom*nja schon gar nicht. Die Medien und die Regierung hetzen seit Jahren gegen uns. Ich wurde selbst so oft kontrolliert, meine weißen Freund*innen so gut wie nie. Ich habe Angst vor der Polizei. Einmal war ich abends unterwegs und die Polizei hat mich kontrolliert, Racial Profiling. Sie waren superrassistisch und haben mich als Schwulen und Rom beleidigt, sie nannten mich zum Beispiel "Blütenstil" [so etwas wie "Tunte", Anm. d. Red.]. Als ich mich hinterher beschweren wollte, sagte man mir auf der Wache, das ginge nicht. In solchen Situationen fühlst du dich einfach klein und machtlos. Du kriegst immer das Gefühl vermittelt, weniger wert zu sein. Das meine ich mit der mentalen Belastung, es ist einfach Stress.
Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Leute sehr wohl verstehen, dass Homosexualität und sexualisierte Gewalt an Kindern offensichtlich unterschiedliche Sachen sind. Aber die Regierung gibt ihnen einfach Futter, um ihre Homofeindlichkeit zu rechtfertigen. Mein größter Wunsch ist nicht einmal, dass die Regierung verschwindet. Sondern dass es einen Wandel in der Gesellschaft gibt. Ich wünsche mir eine intersektionale Linke als Opposition, die zum Beispiel auch die Rechte von trans Personen mit in den Blick nimmt. Es geht nicht nur um weiße cis Schwule und Lesben. Wir sind alle gemeinsam in diesem Kampf.
Fánka, 22, Tätowierer*in
Als nicht binäre Person existiere ich in Ungarn nicht. Die wenigsten wissen, was Nichtbinarität überhaupt bedeutet, und die Regierung erkennt nur zwei Geschlechter an, cis Männer und cis Frauen. Ich glaube, das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Auf der einen Seite werde ich komplett unsichtbar gemacht und gleichzeitig erfahre ich unglaublich viel Gewalt, weil ich als Frau und queer gelesen werde. Ich habe zum Beispiel mehrere Tattoos und sehr kurz rasierte Haare, worüber sich richtig viele Menschen total aufregen. Davor habe ich meistens Catcalling auf der Straße erlebt. Mein Körper wurde sexualisiert. Heute sagen mir Menschen auf offener Straße, dass ich wie eine Frau aussehen soll, lange Haare haben zum Beispiel. Das tut mir weh. Deshalb trage ich immer Kopfhörer, um nicht zu hören, was mir hinterhergeschrien wird. Wenn ich es doch mitbekomme, filme ich die Leute. Meistens rennen sie dann weg. Ich fühle mich nicht sicher auf der Straße, ich war es noch nie.
Meine Familie weiß nichts davon, dass ich queer bin. Zu dem Punkt sind wir nie gekommen. Ich habe Gewalt und Missbrauch erlebt, sie haben mich verlassen, mir gesagt, dass sie mich nicht lieben, mich nie akzeptiert. Also musste ich von zu Hause abhauen. Damals war ich 18.
Wir dürfen nicht mehr vor Minderjährigen über unsere Sexualität, unsere Identität, unsere Existenz sprechen.
Fánka
Ich bin in Therapie, bin verankert in der queeren Community in Budapest und weiß all die Unterstützung absolut zu schätzen. Und ich bin weiß. Ich gehöre also zu denen in Ungarn, die noch die meisten Privilegien als queere Person haben. Und trotzdem leide ich sehr unter der Gesetzesänderung, ich fühle mich einfach nur beschissen. Nach der Demo habe ich die ganze Nacht geweint, ich konnte nicht mehr aufhören. Ich wusste eigentlich, dass so etwas passieren kann. Wir haben gesehen, was letztes Jahr mit trans Personen passiert ist, es war abzusehen. Es geht seit Jahren so. Und trotzdem war mein erster Gedanke, als das Gesetz tatsächlich beschlossen wurde: "Das kann doch einfach nicht sein. Das kann nicht wahr sein." Danach habe ich wie ferngesteuert eine Nachricht an meinen besten Freund geschrieben, ihn gefragt, wie er sich fühlt. Die Tränen sind einfach über mein Gesicht gelaufen. Ich fühle mich gebrochen und sehr, sehr hoffnungslos.
Wir dürfen nicht mehr vor Minderjährigen über unsere Sexualität, unsere Identität, unsere Existenz sprechen. Genau dann entsteht Scham. Wenn du etwas nicht sagen darfst, dann schämst du dich dafür. Kinder und Jugendliche sollen jetzt mit der Idee aufwachsen, dass es nur cis Personen gibt, die heterosexuell begehren. Und ab ihrem 18. Geburtstag dürfen sie dann die großen Neuigkeiten erfahren, dass Geschlecht und Sexualität ein Spektrum sind. Das Gesetz normalisiert Queer- und Transfeindlichkeit. Meine Befürchtung ist, dass diejenigen, die bisher leise waren, sich jetzt bestätigt fühlen und laut und offen gegen uns hetzen. Ich habe nun zum Beispiel noch mehr Angst, zu Ärzt*innen zu gehen. Ich habe gesundheitliche Probleme und muss eigentlich oft zu Untersuchungen. Aber ich befürchte, dass die Queerfeindlichkeit jetzt institutionalisiert ist und ich künftig nicht nur auf der Straße, sondern überall ständig kommentiert und beschimpft werde.
Es wäre toll, wenn ich irgendwann einen Ausweis hätte, auf dem mein richtiges Geschlecht steht. Einfach damit ich nicht jeden Tag die Aufklärungsarbeit machen muss. Ein bisschen Hoffnung habe ich aber: Die Gen Z weiß oft schon, dass es nicht binäre Personen gibt. Ich glaube wegen TikTok. Und das ist richtig gut.
Erik, 24, Stylist und trans Aktivist
Von dem neuen Gesetz bin ich zwar schockiert, aber nicht mehr überrascht. Nach den letzten beiden queerfeindlichen Gesetzen war so etwas abzusehen. Ich selbst habe vor gerade mal zwei Wochen eine Weiterbildung abgeschlossen. Ich wollte Sensibilisierungsarbeit an Schulen machen, wo wir in Klassen gehen und über unsere eigenen Geschichten und Queerness reden. Das ist jetzt verboten. In Büchereien können Kinder und Jugendliche jetzt keine Bücher mehr ausleihen, in denen queere Geschichten vorkommen. Ich bin enttäuscht, weil es so wichtig ist, dass Kinder lernen, dass wir Menschen sind. Und weil in den Klassenzimmern ja auch queere Kinder und Jugendliche sitzen. Die sollen wissen, dass sie nicht allein sind, dass es erwachsene, selbstbewusste Personen gibt, die auch so sind wie sie, und dass es absolut in Ordnung ist, queer oder trans zu sein.
Zurzeit muss man wegen Corona immer überall den Ausweis zeigen: im Zoo, im Café, im Kino, überall. Das bedeutet für mich jedes Mal ein Zwangsouting, weil nach den aktuellen Gesetzen für immer der falsche, weibliche Name auf meinen Dokumenten stehen muss. Ich habe geübt, in diesen Situationen ruhig zu bleiben, weil ich weiß, dass die Kontrolleur*innen ja auch verunsichert sind. Aber ich weiß, dass es keinen Kampf zwischen cis und trans Personen gibt. Das ist es, was die Regierung uns einzureden versucht. Sie versucht, die Gesellschaft gegeneinander auszuspielen, uns zum neuen Feindbild zu machen. Erst waren es Migrant*innen und Geflüchtete, jetzt sind queere und trans Personen dran.
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