Freitag, 17. Juni 2022

Genitalverändernde Operationen // Operaciones de alteración genital // Genital Altering Operations

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Genitalverändernde Operationen

Auch in Deutschland kommen Kinder zur Welt, deren körperliche Geschlechtsmerkmale zwischen den gängigen medizinischen Kategorien von Mädchen und Jungen liegen oder eine Mischung von beiden sind. 

Diese Kinder werden oft bereits im Kleinkindalter medizinischen Behandlungen unterzogen, die ihre Genitalien chirurgisch oder hormonell an die männliche oder weibliche Norm anpassen sollen. Diese Eingriffe sind nicht überlebensnotwendig. Sie erfolgen aus kosmetischen Gründen, oder weil die Eltern sich nicht vorstellen können, dass ihr Kind in diesem Zustand ein glückliches Leben führen kann. 

Gegen die Praxis einer solchen Behandlung, in die die Person nicht selbst eingewilligt hat, wehren sich gesellschaftliche Interessenvertretungen intergeschlechtlich geborener Menschen seit vier Jahrzehnten.

Auch wenn es hier einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel gegeben hat: Die medizinische Praxis hat sich bisher nur unwesentlich geändert. Und es gibt in Deutschland auch nach wie vor kein Gesetz, das intergeschlechtlich geborene Kinder vor genitalverändernden Operationen schützt.

Körperliche und seelische Unversehrtheit 

Der Kampf intergeschlechtlicher Menschen für körperliche und seelische Unversehrtheit reicht zurück bis in die 1980er Jahre und wurde in Deutschland mit der Gründung der Selbsthilfegruppe der „XY-Frauen“ im Jahr 1997 öffentlich sichtbar. Alle Menschen in dieser Gruppe verband die Tatsache, dass sie intergeschlechtlich geboren, in der weiblichen Geschlechtsrolle aufgewachsen und in der Kindheit und Jugend an ihren Genitalien und/oder Keimdrüsen operiert worden waren.

Diese Eingriffe geschahen ohne die Zustimmung und umfassende Aufklärung der Betroffenen selbst. Teilweise wurde ihnen bewusst verschwiegen, was mit ihrem Körper geschehen war. Bei Gründung der Gruppe waren die Mitglieder zwischen 20 und 30 Jahren alt. Sie wurden Opfer einer medizinischen Behandlungspraxis, die „optimal-gender paradigma“ heißt und in den 1960er Jahren Verbreitung fand.2 Sie wurden Opfer gesellschaftlicher Normvorstellungen, in die ihre individuellen Körper nicht hineinpassten.

Diese medizinischen Behandlungspraktiken verstoßen gegen international anerkannte Menschenrechtsnormen – festgeschrieben unter anderem im Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention), im Übereinkommen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention) und im Übereinkommen gegen Folter (Antifolterkonvention) sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention. 

Alle Konventionen wurden von Deutschland ratifiziert. 

Damit sind die rechtlichen Verpflichtungen aus diesen Abkommen für Deutschland bindend.

Die Kinderrechtskonvention besagt, dass bei allen Entscheidungen, die das Kind betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt und das Kind in allen Belangen beteiligt werden muss. Das gilt auch für Kleinkinder. Verschiedene Ausschüsse und andere Vertragsorgane der Vereinten Nationen „haben invasive und irreversible chirurgische und hormonelle Eingriffe bei intergeschlechtlichen Kindern ohne deren Einwilligung, bei denen es sich nicht um Notfallmaßnahmen handelt, durchgehend als schädlich und Verstoß gegen die Rechte des Kindes eingestuft.“

Die medizinische Praxis ändert sich aber nur sehr langsam. Die Bundesärztekammer veröffentlichte 2015 eine Stellungnahme, in der genitalverändernde Operationen im Kleinkindalter als in der Regel nicht notwendig beschrieben werden. Im Jahr 2016 wurden, unter Beteiligung von Intersexuelle Menschen e.V., Bundesverband (IM e.V.), neue AWMF Behandlungsleitlinien für Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung veröffentlicht.4 Die in diesen Leitlinien angedachten Versorgungszentren befinden sich aktuell noch im Aufbau, erste Schulungen für betroffene Kinder und Jugendliche und deren Eltern werden demnächst stattfinden.

5 Diese Patientenschulungen für Kinder sind nicht unproblematisch.

Dass sich das Bewusstsein in der Medizin (noch) nicht gänzlich gewandelt hat, belegen zwei Studien.

Sie zeigen, dass maskulinisierende und feminisierende6 Operationen an Kindern unter zehn Jahren im Zeitraum von 2005 bis 2016 stattgefunden haben und in dieser Zeit auch nicht zahlenmäßig zurückgegangen Bei einzelnen Verfahren ist allerdings ein Rückgang zu beobachten.7 Erfahrungen aus der Selbsthilfe zeigen zudem, dass Eltern immer noch nicht notwendige, irreversible Operationen für ihre intergeschlechtlichen Kinder vorgeschlagen werden.

Einen tatsächlichen Schutz vor genitalverändernden Operationen bietet daher nur ein gesetzliches Verbot.

Aktuelle politische Entwicklungen

Der Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2018 zwischen CDU und SPD sieht für die aktuelle Legislaturperiode die Neufassung einer gesetzlichen Regelung vor, nach der „geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind“.9 Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz veröffentlichte im Februar 2020 einen Referentenentwurf, der normierende Operationen verbieten soll. Er wurde von Interessenvertretungen intergeschlechtlich geborener Menschen für nicht ausreichend befunden.10 Ihre Kommentare zeigten grundlegende Probleme des Entwurfs auf – etwa die Verwendung falscher und dadurch nicht eindeutig definierter Begriffe.

Das Vorhaben, intergeschlechtliche Kinder zu schützen, wurde im Juni 2020 auch von der Opposition aufgegriffen. Es ist jedoch fraglich, ob es noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt wird. Das aber bedeutet auch: Intergeschlechtlich geborenen Menschen wird weiterhin die gleiche und unversehrte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland verwehrt.

Konkret fordern die Selbstvertretungen Intergeschlechtlicher Menschen:

• Medizinische Interventionen dürfen nur erfolgen

nach vollständiger Aufklärung über mögliche Risiken und über Folgen, die sich aus den Behandlungen für den weiteren Lebensverlauf ergeben. Eine Einwilligung hierzu kann nur die Person selbst erteilen. Ausnahme: Unaufschiebbare Fälle zur Abwendung von akuter, realer Lebensgefahr.

• Die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung soll nur die Person selbst treffen dürfen, nicht aber ihre Eltern, Gerichte oder Mediziner*innen.

Eingriffe ohne Zustimmung der betroffenen Personen selbst stellen eine schwerwiegende Verletzung der Würde, des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Unversehrtheit dar.

• Die Entscheidung der Person selbst ist zu respektieren und der Zugang zur medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Die Kosten für Behandlungen müssen von den Krankenkassen übernommen werden.

• Die Aus- und Weiterbildung aller Personen, die mit der medizinischen Versorgung intergeschlechtlich geborener Menschen betraut sind, muss dringend verbessert und inhaltlich ausgebaut werden, damit intergeschlechtlich geborene Menschen die Möglichkeit gleicher Teilhabe an der medizinischen Versorgung erlangen.

• Die Opfer der Behandlungen, die in den vergangen 50 Jahren stattgefunden haben, sind medizinisch zu versorgen. Ihnen müssen alle Möglichkeiten zur gesundheitlichen Rehabilitation eingeräumt werden.

Die Selbstvertretungen intergeschlechtlicher Menschen erwarten, dass Regierung und Parlament zeitnah einen wirksamen gesetzlichen Schutz für intergeschlechtlich geborene Menschen beschließen und so die menschenrechtliche Situation in Deutschland verbessern! 

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