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Menschenrechtswidrige medizinische Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern
Intergeschlechtliche Menschen haben Körper, die sich hinsichtlich ihrer chromosalen, hormonalen oder anatomischen Merkmale nicht eindeutig in eine der beiden anerkannten Geschlechtskategorien „männlich“ und „weiblich“ einordnen lassen. Intergeschlechtlichkeit ist auch heute noch ein Tabu. Sie gilt als „Krankheit“ oder „Störung“, die es zu korrigieren gilt. Intergeschlechtliche Menschen erleben das Gesundheitswesen deshalb oft als Ort der Gewalt.
Das betrifft insbesondere Kinder: Obwohl bestehende medizinische Leitlinien davon abraten, unterziehen Mediziner*innen intergeschlechtliche Kinder bis heute gravierenden und irreversiblen Eingriffen, um das körperliche Erscheinungsbild dieser Kinder dem binären Geschlechterbild von Mann und Frau anzupassen.
Diese auch heute noch regelmäßig praktizierten medizinischen Behandlungen an den inneren und äußeren Geschlechtsmerkmalen intergeschlechtlicher Kinder sind schwerwiegend und in der Regel irreversibel. Es handelt sich um medizinisch nicht notwendige, oft rein kosmetische Eingriffe, die der Zuweisung eines eindeutigen Geschlechts dienen und damit auf einem falschen binären Geschlechterverständnis beruhen. Diese Behandlungen können nachweislich zu massiven Einschränkungen der Funktionalität der Geschlechtsorgane und der sexuellen Empfindsamkeit der betroffenen Personen sowie traumatischen psychischen Folgen führen.
Der LSVD und andere Interessenverbände fordern deshalb schon lange, dass Kinder effektiv vor solchen Behandlungen geschützt werden müssen. Die Bundesregierung hat am 25. März 2021 endlich ein Gesetz verabschiedet, das Kinder mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ vor den menschenrechtswidrigen medizinischen Eingriffen schützen soll. Das Gesetz mit dem neuen § 1631e BGB ist am 25.05.2021 in Kraft getreten.
Dieser Beitrag stützt sich unter anderem auf die Faktenpapiere zu Intergeschlechtlichkeit des Vereins Intersexuelle Menschen, die im Rahmen des Kompetenznetzwerkes "Selbst.verständlich Vielfalt" entstanden sind. Er beleuchtet folgende Punkte:
- Was ist Intergeschlechtlichkeit, was bedeutet Variante der Geschlechtsentwicklung?
- Menschenrechtswidrige medizinische Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern
- Was regelt das neue Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung?
- Chronik des Gesetzgebungsverfahrens
- Forderungen der Selbstvertretungen intergeschlechtlicher Menschen
- Weiterlesen
1. Was ist Intergeschlechtlichkeit, was bedeutet Variante der Geschlechtsentwicklung?
Intergeschlechtlich: (Selbst-)Bezeichnung für eine Person, deren genetische, anatomische und/oder hormonelle Geschlechtsmerkmale von Geburt an nicht den Geschlechternormen von Mann und Frau entsprechen. Der Begriff entstand aus der Menschenrechtsbewegung.
Variante der Geschlechtsentwicklung: Bezeichnung für Geschlechtsmerkmale bei Menschen, die nicht den Geschlechtsnormen von Mann und Frau entsprechen.
Jeder Mensch wird mit einer individuellen Geschlechtsentwicklung geboren. Für eine bestimmte Gruppe von Menschen ergibt sich daraus allerdings eine Sonderstellung. In Deutschland leben schätzungsweise bis zu 120.000 Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung (VdG). Diese Menschen werden mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren, die zwischen den gängigen Kategorien von Mann und Frau liegen oder eine Mischung von beiden sind. Die Zuschreibung zu einem Geschlecht erfolgt über die Chromosomen, die äußeren und inneren Geschlechtsorgane oder den Hormonspiegel.
Ob eine Person intergeschlechtlich ist, lässt sich oft nicht auf den ersten Blick erkennen. Einige Babys bekommen direkt bei Geburt eine medizinische Diagnose. Bei anderen Menschen dauert es bis zur Pubertät oder noch länger, bis sie erfahren, dass sie intergeschlechtlich geboren wurden. Es gibt sehr viele unterschiedliche Varianten der Geschlechtsentwicklung. Jeder Mensch hat seine eigene, ganz individuelle Körperlichkeit – so weit, so normal. Alle Menschen sind verschieden und ihre Körper sind es ebenso.
Als Bezeichnung für Intersexualität haben sich „Varianten der Geschlechtsentwicklung“, „Intergeschlechtlichkeit“ oder „Variationen der Geschlechtsmerkmale“ in der Community etabliert. Die selbstempfundene Identität eines Menschen und die damit verbundene Selbstbezeichnung ist als Teil der Würde zu schützen. Diese Gleichwürdigkeit kann durch die Frage „Wie darf ich Sie ansprechen?“ sehr einfach erreicht werden.
2. Menschenrechtswidrige medizinische Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern
Auch in Deutschland kommen Kinder zur Welt, deren körperliche Geschlechtsmerkmale zwischen den gängigen medizinischen Kategorien von Mädchen und Jungen liegen oder eine Mischung von beiden sind. Diese Kinder werden oft bereits im Kleinkindalter medizinischen Behandlungen unterzogen, die ihre Genitalien chirurgisch oder hormonell an die männliche oder weibliche Norm anpassen sollen. Diese Eingriffe sind nicht überlebensnotwendig. Sie erfolgen aus kosmetischen Gründen, oder weil die Eltern sich nicht vorstellen können, dass ihr Kind in diesem Zustand ein glückliches Leben führen kann.
Gegen die Praxis einer solchen Behandlung, in die die Person nicht selbst eingewilligt hat, wehren sich gesellschaftliche Interessenvertretungen intergeschlechtlich geborener Menschen seit vier Jahrzehnten. Auch wenn es hier einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel gegeben hat: Die medizinische Praxis hat sich bisher nur unwesentlich geändert. Laut der Studie "Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter" von Josch Hoenes, Eugen Januschke, Ulrike Klöppel und Katja Sabisch aus dem Jahr 2019 wurden in Deutschland zwischen 2005 und 2016 jährlich durchschnittlich 1.871 „feminisierende“ oder „maskulinisierende“ Operationen an Kindern unter zehn Jahren durchgeführt. Obwohl bestehende medizinische Leitlinien von diesen Eingriffen abraten. 2016 wurden sogar 2.079 solcher Operationen durchgeführt. Das sind fünf bis sechs Operationen pro Tag.
In Deutschland gab es bis 2021 kein Gesetz, das intergeschlechtlich geborene Kinder vor Operationen an den äußeren und inneren Genitalien und Keimdrüsen schützt. Es war vielmehr die Entscheidung der sorgeberechtigten Eltern, ob sie in diese Eingriffe einwilligten. In der Praxis sahen die Eltern sich hierbei oft erheblichem Druck der behandelnden Ärzt*innen ausgesetzt. Mehrere Ausschüsse der Vereinten Nationen haben diese Eingriffe als Verletzung der Menschenrechte klassifiziert und die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, dies zu ändern.
3. Was regelt das neue Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung?
Im März 2021 hat der Bundestag ein Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung beschlossen (BT-Drs. 19/24686). In das Bürgerliche Gesetzbuch wird dazu § 1631e BGB neu eingeführt. Die Vorschrift enthält ein Verbot medizinischer Behandlungen an Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, die allein in der Absicht erfolgen, das körperliche Erscheinungsbild an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzupassen (§ 1631e Abs. 1 BGB). Operative Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen, die nicht rein kosmetisch sind, dürfen nur vorgenommen werden, wenn sie nicht bis zur selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden können (§ 1631e Abs. 2 BGB). Ein Familiengericht soll prüfen, ob der geplante Eingriff dem Kindeswohl entspricht (§ 1631e Abs. 3 BGB). Legen die Eltern dem Gericht eine befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission vor, wird dies vermutet (§ 1631e Abs. 3 und 4 BGB). Ohne eine gerichtliche Genehmigung sind operative Eingriffe strafbar, es sei denn, sie sind zur Abwehr einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Kindes erforderlich und nicht aufschiebbar.
Das neue Gesetz ist ein erster und dringend notwendiger Schritt, um intergeschlechtliche Menschen vor unnötigen und ungewollten medizinischen Behandlungen zu schützen. Leider sieht das Gesetz keine Maßnahmen vor, die eine Umgehung des Verbots verhindern und eine effektive Strafverfolgung ermöglichen. Da das Verbot nur Kinder mit der medizinischen Diagnose „Variante der Geschlechtsentwicklung“ schützt, besteht eine große Umgehungsgefahr, indem Kinder aus dem Anwendungsbereich „hinausdefiniert“ werden.
Intergeschlechtlichkeit wird noch immer als „abnormal“ betrachtet, weshalb Eltern häufig unter dem fatalen Eindruck stehen, dass sie ihrem Kind mit einer „normalisierenden“ OP ein vermeintlich besseres Leben ermöglichen. Der LSVD und andere Interessenverbände fordern deshalb unter anderem eine Beratungspflicht der Eltern durch qualifizierte Peer-Berater*innen vor jedem Eingriff, da die Eltern sich in der Regel vor der Geburt ihres Kindes mit dem Thema noch nie auseinandergesetzt haben. Eltern und Kinder müssen umfassend und vorurteilsfrei über die mit der Behandlung verbundenen Folgen und Alternativen aufgeklärt werden.
Weiterhin fordern wir die Einrichtung eines zentralen Melderegisters und umfassender Melde- und Dokumentationspflichten. Alle Eingriffe an Geschlechtsmerkmalen von Kindern müssen gemeldet und umfassend dokumentiert werden, um für die Kinder später einen Zugang zu umfassenden Informationen über ihre Behandlungshistorie zu gewährleisten und die Strafverfolgung zu erleichtern. Zudem muss die Verfolgungsverjährung bei rechtswidrigen Eingriffen verlängert werden. Die Verjährungsfrist für Körperverletzungen von fünf bzw. zehn Jahren ist für diese Fälle viel zu kurz: kein Kind wird mit fünf oder zehn Jahren einen Strafantrag wegen Körperverletzung stellen (vgl. die ausführliche LSVD-Stellungnahme zum Gesetz).
4. Chronik des Gesetzgebungsverfahrens
Der Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2018 zwischen CDU, CSU und SPD sah für die 19. Legislaturperiode die Verabschiedung einer gesetzlichen Regelung vor, nach der „geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefahr zulässig sind.“
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz veröffentlichte im Februar 2020 einen Referentenentwurf, der normierende Operationen verbieten soll. Er wurde vom LSVD und von Interessenvertretungen intergeschlechtlich geborener Menschen für nicht ausreichend befunden. Kritisiert wurde unter anderem die Verwendung falscher und dadurch nicht eindeutig definierter Begriffe:
- Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Stand 09.01.2020)
- Stellungnahme des LSVD
- Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte
- Stellungnahme von Intersexuelle Menschen e.V.
- Stellungnahme von OII Deutschland
- Stellungnahme von OII Europe und ILGA Europe
- Stellungnahme des Paritätischen
- Stellungnahme der dgti
Die Bundesregierung legte im September 2020 einen neuen Gesetzentwurf für ein Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vor. Der LSVD und andere Interessenverbände nahmen hierzu erneut kritisch Stellung. Bemängelt wurde unter anderem, dass das Gesetz viele Umgehungsmöglichkeiten bietet und dass kein Zentralregister mit entsprechenden Melde- und Dokumentationspflichten für geschlechtsverändernde Operationen an Kindern eingeführt wurde:
- Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23.09.2020
- Stellungnahme des LSVD
- Stellungnahme von Intersexuelle Menschen e.V.
- Offener Brief von Intersexuelle Menschen e.V. an die Ministerpräsident*innen der Länder
- Stellungnahme von OII Deutschland
Das Gesetz wurde am 25.03.2021 vom Bundestag nahezu ohne Änderungen beschlossen und trat am 25.05.2021 in Kraft:
- Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (BGBl. I 2021, Nr. 24 21.05.2021 , S. 1082)
- Halbherziges Verbot von menschenrechtswidrigen Operationen an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen, LSVD-Pressemitteilung vom 25.3.2021
5. Forderungen der Selbstvertretungen intergeschlechterlicher Menschen
- Medizinische Interventionen dürfen nur erfolgen nach vollständiger Aufklärung über mögliche Risiken und über Folgen, die sich aus den Behandlungen für den weiteren Lebensverlauf ergeben. Eine Einwilligung hierzu kann nur die Person selbst erteilen. Ausnahme: Unaufschiebbare Fälle zur Abwendung von akuter, realer Lebensgefahr.
- Die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung soll nur die Person selbst treffen dürfen, nicht aber ihre Eltern, Gerichte oder Mediziner:innen. Eingriffe ohne Zustimmung der betroffenen Personen selbst stellen eine schwerwiegende Verletzung der Würde, des Selbstbestimmungsrechts und der körperlichen Unversehrtheit dar.
- Die Entscheidung der Person selbst ist zu respektieren und der Zugang zur medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Die Kosten für Behandlungen müssen von den Krankenkassen übernommen werden.
- Die Aus- und Weiterbildung aller Personen, die mit der medizinischen Versorgung intergeschlechtlich geborener Menschen betraut sind, muss dringend verbessert und inhaltlich ausgebaut werden, damit intergeschlechtlich geborene Menschen die Möglichkeit gleicher Teilhabe an der medizinischen Versorgung erlangen.
- Die Opfer der Behandlungen, die in den vergangen 50 Jahren stattgefunden haben, sind medizinisch zu versorgen. Ihnen müssen alle Möglichkeiten zur gesundheitlichen Rehabilitation eingeräumt werden.
Die Selbstvertretungen intergeschlechtlicher Menschen erwarten, dass Regierung und Parlament zeitnah einen wirksamen gesetzlichen Schutz für intergeschlechtlich geborene Menschen beschließen und so die menschenrechtliche Situation in Deutschland verbessern.
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