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Mittwoch, 16. August 2023
Baccha Bazi, bei denen Jungen im Alter von 11 bis 16 Jahren zu homosexuellen Handlungen gezwungen werden, stellen eine nichtstaatliche Verfolgung dar, da der afghanische Staat nicht willens und in der Lage ist, die Betroffenen davor zu schützen. // Baccha Bazi, in which boys between the ages of 11 and 16 are forced to engage in homosexual acts, constitutes non-state persecution as the Afghan state is unwilling and unable to protect those affected.
Baccha Bazi, in which boys between the ages of 11 and 16 are forced to engage in homosexual acts, constitutes non-state persecution as the Afghan state is unwilling and unable to protect those affected.
Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 09.08.2012 - 8 K 20174/11 Me - asyl.net: M19959
https://www.asyl.net/rsdb/M19959
Leitsatz:
Baccha Bazi, bei denen Jungen im Alter von 11 bis 16 Jahren zu homosexuellen Handlungen gezwungen werden, stellen eine nichtstaatliche Verfolgung dar, da der afghanische Staat nicht willens und in der Lage ist, die Betroffenen davor zu schützen. Bei Rückkehr nach Afghanistan droht auch dem zwischenzeitlich volljährigen Betroffenen Verfolgung, da er Racheakte zu fürchten hat.
Die Klage, über die auch in Abwesenheit der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. [...]
Das Vorbringen des Klägers, er sei mehrfach von bestimmten Personen in seinem Dorf aufgegriffen und mit Gewalt an Orte gebracht worden, wo er für diese Personen habe tanzen müssen und von ihnen sexuell missbraucht und vergewaltigt worden sei, ist glaubhaft. Der Kläger wurde offensichtlich gezwungen, an den sogenannten "Baccha Bazi" (Knabentänze oder Knabenspiele) teilzunehmen, die insbesondere in den nördlichen Provinzen Afghanistans im Einflussgebiet tadschikischer und usbekischer Warlords nach dem Ende der Taliban-Herrschaft wieder weit verbreitet sind (Welt online, "Baccha Bazi - Afghanistans Kinderprostituierte", Artikel vom 27.08.2010, www.welt.de). Bei diesen Baccha Bazi werden Jungen zwischen 11 und 16 Jahren bis zum Einsetzen der Pubertät von reichen Männern gezwungen, auf Sexpartys für sie in Frauenkleidung und mit Glöckchen an Hand- und Fußgelenken zu tanzen und ihnen danach für sexuelle Handlungen zur Verfügung zu stehen. Häufig kommt es zu Vergewaltigungen, teilweise werden die Jungen von einem Partygast zum anderen gereicht. Bei den Männern handelt es sich meistens um mächtige Kriegsfürsten, lokale Polizeichefs oder reiche Geschäftsmänner (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Homosexualität - Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis, vom 12.09.2006, www.fluechtlingshilfe.ch; Frankfurter Allgemeine, "Missbrauch in Afghanistan - Die Tanzknaben vom Hindukusch", Artikel vom 23.05.2011, www.faz.net; Welt online, "Baccha Bazi - Afghanistans Kinderprostituierte", Artikel vom 27.08.2010, www.welt.de).
Der Kläger kommt aus Badachschan, der nördlichsten Provinz Afghanistans, und ist tadschikischer Volkszugehörigkeit. Er hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend geschildert, wie er mehrfach von einem Kommandanten der Regierungstruppen aus seinem Dorf auf der Straße aufgegriffen oder von zu Hause abgeholt wurde, und gegen seinen Willen auf Partys vor mehreren Männern tanzen musste, geschlagen und gewürgt und sexuell missbraucht wurde. Das Gericht hat auch keinen Zweifel daran, dass der Kläger von den Männern vergewaltigt wurde, auch wenn er dies in der Anhörung beim Bundesamt verneint hatte. Zur Erklärung des Widerspruchs hat er angegeben, dass er die Befürchtung hatte, körperlich untersucht zu werden. Dies ist zum einen nachvollziehbar, zum anderen bestehen schon deswegen keine Zweifel an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage, weil ausweislich der oben zitierten Presseartikel Vergewaltigungen bei den Baccha Bazi durchaus üblich sind.
Diese Geschehnisse stellen Verfolgungshandlungen dar, die durch die Anwendung physischer und sexueller Gewalt eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte des Klägers bewirkt haben. Die Verfolgung knüpfte an die damalige Zugehörigkeit des Klägers zu einer bestimmten sozialen Gruppe an, nämlich die der etwa 11 bis 16-jährigen Jungen, die noch nicht die Grenzen zur Pubertät überschritten hatten. Nur Jungen in diesem Alter werden zur Teilnahme an den Baccha Bazi gezwungen. Die Verfolgung ging zwar nicht unmittelbar von staatlicher Seite aus, auch wenn der Täter Kommandant der Regierungstruppen war, denn er hat die Tat nicht als Vertreter des Staates, sondern als Privatmann begangen. Auch bei einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ist hier jedoch eine politische Verfolgung anzunehmen, denn der afghanische Staat war nicht willens und in der Lage, den Kläger vor diesen Übergriffen zu schützen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG).
Die Baccha Bazi werden im Gegenteil vom afghanischen Staat sogar häufig geduldet. So berichtet die Frankfurter Allgemeine, dass ein ehemaliger Staatsanwalt im Kundus im Jahr 2009 versucht hat, das System der Baccha Bazi zu bekämpfen, indem er zahlreiche Razzien veranlasst habe. Er habe einen Musiker festnehmen lassen, der mit illegalen Baccha Bazi-Videos berühmt geworden sei und in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen verkehrt habe. Der Musiker sei durch den Einfluss mehrerer Provinz-Polizeichefs und des afghanischen Vizepräsidenten bald wieder freigelassen worden, der Staatsanwalt sei entlassen worden (Frankfurter Allgemeine, "Missbrauch in Afghanistan - Die Tanzknaben vom Hindukusch", Artikel vom 23.05.2011, www.faz.net.
Der Kläger ist mithin vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist. Ihm droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan erneut politische Verfolgung, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass er in seiner Heimat weiter gezwungen wird, an Baccha Bazi teilzunehmen. Der Kläger ist mittlerweile etwa 21 Jahre alt, also erwachsen geworden. Für Baccha Bazi missbraucht werden ausschließlich Jungen, die die Pubertät noch nicht erreicht haben. Der Kläger müsste bei einer Rückkehr in seinen Heimatort jedoch Racheakte der damaligen Täter befürchten, zum einen, weil er damals weggelaufen ist und nicht mehr für die Partys zur Verfügung stand, zum anderen weil nicht auszuschließen ist, dass die Täter Strafanzeigen vom Kläger befürchten und ihn deshalb zum Schweigen bringen müssen. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger eine Bestrafung wegen homosexueller Handlungen droht. Zwar geht das VG Köln (U. v. 06.12.2011 - 14 K 6478/09.A - juris) davon aus, dass die Teilnahme an Baccha Bazis nicht als homosexuelle Handlung eingestuft wird, weil eine solche nur zwischen gleichgeschlechtlichen Erwachsenen stattfinden könnte. Daran hat die Einzelrichterin jedoch erhebliche Zweifel. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes werden Bisexuelle, Homosexuelle und Transsexuelle in Afghanistan sozial geächtet und sind Strafen bis hin zur Todesstrafe unterworfen. Sexualpraktiken, die üblicherweise mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden, werden mit langjährigen Haftstrafen sanktioniert (AA, Lagebericht vom 10.01.2012, S. 18 f.). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe geht davon aus, dass Homosexualität in Afghanistan mit dem Tode bestraft wird und Homosexuelle mit Verfolgung durch die eigene Familie, Gemeindemitglieder und regierungsfeindliche Gruppierungen rechnen müssen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 23.08.2011, S. 17). Selbst wenn der Kläger von der immer noch durch die Scharia geprägten islamischen Justiz nicht der Gruppe der Homosexuellen zugerechnet wird, kann ihm wegen der Vornahme homosexueller Handlungen zumindest eine langjährige Haftstrafe drohen. Auch dem Artikel der Frankfurter Allgemeinen ("Missbrauch in Afghanistan - Die Tanzknaben vom Hindukusch", Artikel vom 23.05.2011, www.faz.net) ist zu entnehmen, dass - wenn es überhaupt zu einem Vorgehen des afghanischen Staates gegen Baccha Bazi kommt - in der Regel die Jungen die Leidtragenden sind. Der afghanischen Menschenrechtskommission zufolge würden 12 % der männlichen Insassen der Jugendgefängnisse in Afghanistan eine Strafe wegen Homosexualität oder Ehebruchs verbüßen; keiner von ihnen sei älter als 13 Jahre. Das Gericht hält es für ausgeschlossen, dass Jungen unter 13 Jahren bereits eine sexuelle Orientierung haben, die zu willentlichen homosexuellen Handlungen führen könnte. Es geht deshalb davon aus, dass die genannten jugendlichen Straftäter wegen ihrer Teilnahme an Baccha Bazi und der dort ausgeführten sexuellen Handlungen inhaftiert sind. Auch diese Gefahr würde dem Kläger daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht ihm nicht zur Verfügung, denn eine Verfolgung wegen homosexueller Handlungen wäre landesweit zu befürchten.
Bin der Überzeugung sehr viele Ignorieren Thematik, welche nicht Ignoriert werden dürfen, danke für die Aufmerksamkeit mfg Nikita Noemi Rothenbächer
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