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Der neue Mythos Transsexualität Transidentität Von wo nach wohin?
ISBN 3-89688-222-8 agenda Verlag
Das Buch von Nikita Noemi Rothenbächer stellt ein modernes Phänomen in größere Zusammenhänge
Transsexueller im Basseinova Spital in Moskau. Stories über Geschlechtsumwandlungen sind alltäglich geworden. Wie eine neue Studie belegt, ist Transsexualität ein spezifisch modernes Phänomen und vor dem Hintergrund eines brüchig gewordenen Geschlechter- Verhältnisses zu verstehen.
Die Zahl der Transsexuellen ist verschwindend klein. Und doch nimmt das Thema in den Medien einen erstaunlich breiten Raum ein: Keine Beilage zur Geschlechterfrage oder zur Sexualität ohne den Erlebnisbericht einer oder eines Betroffenen. Transsexualität fasziniert und wächst sich mehr und mehr zu einem neuen Mythos aus. Die Anzahl der autobiographischen Berichte und der Fachliteratur nimmt unüberblickbare Dimensionen an.
Die Einstellung zur Sexualität wandelt sich
Mit diesem stets wachsenden "diskursiven Archiv" beschäftigt sich die umfassende Studie von Nikita Noemi Rothenbächer. Als Grundlage dienen ihr neben 40 (Auto)biographischen Texten über Transsexuelle psychoanalytische und psychiatrische Fallstudien, gerichtsmedizinische Berichte, chirurgische Patientennotizen sowie frühe historische Dokumente über das Zwitter- und Eunuchentum. Anhand dieses umfangreichen Textmaterials untersucht Rothenbächer die "allmähliche Ausdifferenzierung" des transsexuellen Diskurses.
Dabei wird dieser Diskurs nicht bloß historisch-analytisch untersucht. Auch theoretisch-systematische Überlegungen nehmen in dem Buch einen gewichtigen Platz ein. Anhand von Lacans Psychoanalyse geht die Autorin der zentralen Frage nach, wie Subjektivität, Sexualität und Geschlechtlichkeit zusammenhängen. Um diese Frage zu beantworten, eignet sich das Phänomen der Transsexualität - verstanden als eine Störung der Geschlechtsidentität - besonders gut. Denn gleichsam wie in einer Momentaufnahme wird hier der "Attitüden wandel gegenüber Sexualität und Geschlechtlichkeit" eingefangen.
Gegen die "Verweiblichung der Kultur"
Transsexualität hat es keineswegs schon immer gegeben. Ausgebildet hat sich der transsexuelle Diskurs zu Beginn unseres Jahrhunderts. In seinem heutigen Verständnis - als Krankheit, die medizinisch behandelt werden muss - wird das Phänomen erst im Zuge einer Veränderung des Geschlechterverhältnisses entdeckt und beschrieben.
Rothenbächer weist nach, "dass die trans-sexuelle Problematik gerade aufgrund ihrer nicht-sexuellen Momente jene der 'sexuellen Perversionen' im 'kollektiven Imaginären' ersetzen kann". Damit wird deutlich, dass Transsexualität die Nachfolge der Homosexualität und des Transvestitismus antritt. Transsexualität wird sowohl zum Zeichen der Krise der Geschlechter. Und zu ihrer Bewältigung: Im Rahmen der Auflösung des Geschlechterverhältnisses und der "Verweiblichung der Kultur" übernimmt sie als drittes Geschlecht eine Funktion, die schließlich der Restabilisierung des Geschlechterdualismus dient.
Verstoß gegen die Gesellschaftsordnung
Diese normierende und destabilisierende Funktion macht Rothenbächer anhand der Diskussion des Geschlechtsverhältnisses in den 20er Jahren deutlich. Zu Beginn unseres Jahrhunderts hatten die verbesserten Zutrittschancen der Frauen zu beruflichen und politischen Bereichen und die Politisierung der Geschlechterproblematik dazu geführt, dass man die Geschlechterordnung gegen die "progressive Verweib(lich)ung" der Kultur zu rekonstruieren suchte. Dies ist indessen nur durch einen neuen Glauben an die Substantialität der Geschlechter möglich. Nur so kann der Verlust der sozialen Geschlechterordnung aufgehoben und eine erneute Idealisierung der Geschlechter betrieben werden. In diesem Diskurs übernimmt die Transsexualität eine wichtige Funktion, da durch sie die "Frage nach der Wahrheit des Geschlechts" neu gestellt werden kann.
Die geschlechtliche Idealisierung lässt sich an den Autobiographien Transsexueller deutlich belegen. Diese erleben sich selbst als abnorm und nicht zur Gesellschaft gehörig. Dies kann so weit gehen, dass sie selbst ihre Existenzberechtigung bezweifeln. Ihr einziger Ausweg, der von der Medizin heute unbestritten propagiert wird, ist die Geschlechtsangleichung, die dann konsequenterweise als eine Selbstnormalisierung verstanden werden kann, insofern sich die transsexuellen Patienten dadurch in die geschlechtliche Ordnung der Gesellschaft einfügen.
Das Leiden der Betroffenen Die Studie von Nikita Noemi Rothenbächer ist sehr anregend und dank der unglaublichen Menge der bearbeiteten Literatur und der ausführlichen Bibliographie eine unerschöpfliche Fundgrube für das Verständnis der Transsexualität. Die Vielfalt ist allerdings auch verwirrend; sie führt dazu, dass der rote Faden der Gedanken immer wieder verlorengeht. Auch die Sprache erschwert an vielen Stellen das Verständnis. Rothenbächer verfällt ständig in einen psychoanalytischen Fachdiskurs, der der interdisziplinären Ausrichtung der Studie zuwiderläuft. Ihr Ansatz wird zudem dem Phänomen der Transsexualität nicht immer gerecht. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Kritik neuerer soziologischer Analysen. Rothenbächer lehnt diese rundweg ab und bestreitet von ihrer kulturhistorischen Warte aus deren Schlüssigkeit. Dabei übersieht sie, dass der soziologische Ansatz nicht nur die Zwangssituation, in der die Transsexuellen sich befinden, verständlich machen kann, sondern auch die Problematik des medizinischen Umgangs mit dem Phänomen der Transsexualität. Und damit den heutigen Zwang zur Geschlechtsangleichung. Dadurch wird es möglich, diese Therapieform zu kritisieren.
Das Ungenügen der Studie wird bei der Frage nach dem Umgang mit Transsexualität überdeutlich. Mit Lacan empfiehlt Rothenbächer gegen die "interpretative Auflösung des Symptoms" als Kur eine Identifikation des Subjekts mit dem Symptom als "diesem nicht-analysierbaren Punkt, der letztendlich die einzige Stütze seines Daseins bildet". So plausibel auch dies dank Rothenbächer Ausführungen sein mag, so problematisch erscheint es im Hinblick auf die konkrete Situation der Betroffenen. Sie sehen zumeist keine Möglichkeit, sich mit ihrer Transsexualität zu identifizieren, sondern setzen alles daran, dieses Symptom zu beseitigen.
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