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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012
Transidentisches
Anliegen
Was ist weiblich,
was ist männlich?
(Deutsches
Ärzteblatt / PP/ Heft 4 / April 2008)
Unsere Anmerkungen zu diesem Artikel
(Brief an die Redaktion
des Deutschen Ärzteblatt)
Sehr geehrte Damen und Herren,
zu der Veröffentlichung im Wissenschaftsteil PP Heft 4 vom
April 2008 wurde ein Artikel zur Problematik Transsexualität /Transidentität
veröffentlicht. Da von völlig falschen Grundlagen ausgegangen wurde, halten wir
es für dringend erforderlich, dies nicht nur aus Sicht betroffener Patienten
richtigzustellen. Es ist sicher lobenswert, wenn sich Mediziner und Psychologen
dieser Thematik annehmen. Das Problem ist aber, selbst in bester Absicht, wie
auch im Artikel von Frau Dr. phil Marion Sonnenmoser ersichtlich, dass von
längst überholten und irrealen Annahmen und Vorstellungen ausgegangen wird.
Daher sind auch falsche Schlussfolgerungen zwangsläufig. Es soll hiermit
versucht werden, die Tatsachen korrekt darzulegen und somit eine effiziente
Behandlung von Menschen mit Transidentität zu gewährleisten.
Die Darlegung, dass es 2000 bis 6000 Menschen in Deutschland
gibt, die von Transidentität betroffen sind, ist Schönfärberei oder das
bewusste Ignorieren von Tatsachen. Das TSG (Transsexuellengesetz) gibt es seit
1980. Wenn in jedem Bundesland im Durchschnitt nur 50 Personen nach §1 TSG eine
Vornamensänderung beantragen (in Berlin und Brandenburg durchschnittlich etwa
150 jährlich), sind seit Bestehen des TSG also mindestens 20. 000 Menschen mit
Transidentität aktenkundig. Die Anzahl der Betroffenen, die sich in hormoneller
oder anderer medizinischer Behandlung befinden ist aber mit Sicherheit mehr als
doppelt so hoch. Transidentität gab es auch schon vor dem TSG. Man muß also
davon ausgehen, dass real etwa 50. 000 bis 60. 000 Menschen in Deutschland
einen sozialen Wechsel vollzogen haben, die heute noch leben. Weltweite Studien
ergaben Anfang der 90er Jahre eine Häufigkeit in der Bevölkerung von 0,5%. Hier
sei das Buch " Das Monalisa-Syndrom" zu empfehlen (leider nur noch
gebraucht erhältlich).
Die Aussage, dass lediglich 43 bis 50% der Betroffenen eine
chirurgische Angleichung wünschen, widerspricht den realen Erfahrungen von weit
über 500 Betroffenen, seit Bestehen der SHG 1999 und den bundesweiten
Erfahrungen von Institutionen, Verbänden oder Vereinen. Bisher sind mir z. B.
im Raum Berlin - Brandenburg nur zwei Fälle bekannt, die für sich
körperverändernde chirurgische Behandlungen dauerhaft ausschließen. Allerdings
ist es Tatsache, dass die Missachtung des Grundanliegens der Humanmedizin
" Durch eine Behandlung das bestehende Leid eines Patienten nicht zu
verschlimmern, bzw. dem Patienten kein neues Leid zuzufügen" und das
Ignorieren des Behandlungszieles entsprechend der WHO in den ICD 10 F64.0 ...den
eigenen Körper den bevorzugten (psychischem) Geschlecht soweit wie möglich
anzugleichen" , durch MDK und Krankenkassen, entgegen der Therapiehoheit
behandelnder Fachärzte, eine Weiterbehandlung und somit körperangleichende
Maßnahmen erheblich behindert werden. Die SHG verzeichnet jährlich 40 bis 70
Neuzugänge. Im gleichen Zeitraum erhalten aber weniger als 10% eine
Kostenübernahme für operative körperangleichende Behandlungen, meist wegen
fehlendem "Alltagstest", fehlender Psychotherapie, fehlender Vornamensänderung
oder anderen für eine medizinische Behandlung irrealen Annahmen.
Darlegungen zum "Vorgehen bei angestrebter
Geschlechtsumwandlung" sind nicht nur sachlich falsch, sondern
menschenverachtend. Zuerst einmal kann kein Mensch sein Geschlecht wechseln.
Bis heute kennt die Wissenschaft keine eindeutige Definition für Mann oder
Frau. Auch die chromosomale Grundlage besteht lebenslang.
Die genitale Zwangszuweisung durch den sogenannten
"Hebammenblick“ bei der Geburt, wird gesellschaftlich wie rechtlich als
Grundlage angesehen. Dies ist aber nicht in jedem Fall real, wie Transidentität
bzw. Hermaphroditen immer wieder verdeutlichen. Die Auffassung, dass hier 5
Stufen durchlaufen werden müssen und wie dies zu erfolgen hat, steht nicht nur
im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Schulmedizin, sondern verletzt
auch Grundrecht.
Bei der Diagnose wird
leider oft die "Selbstdiagnose" des Patienten in Abrede gestellt.
Warum? Gerade die Selbstwahrnehmung, das sichere Gefühl als Angehöriger des
anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, ist ja der Grund, warum
wir einen Arzt konsultieren. Wie auch bei anderen Erkrankungen erwarten wir eine
Behandlung, die das Leiden lindern soll. Wenn keine psychischen Erkrankungen
vorliegen, gibt es keine Rechtfertigung, die Selbstwahrnehmung in Abrede zu
stellen, wenn sich der Patient über die Konsequenzen, Möglichkeiten und Risiken
einer Behandlung im Klaren ist.
Ein Alltagstest wird
auch von vielen Betroffenen für sinnvoll gehalten. Es muß doch aber jedem
einzelnen Patienten überlassen sein, in welcher Art und Weise, und in welchem
Zeitraum er zu der sicheren Erkenntnis gelangte, dass ein Leben als Mann oder
Frau seiner psychischen Identität entspricht und ob dies gesellschaftlich wie
kulturell auch lebbar ist. Hier wird aber oft der lange Weg der
Selbsterkenntnis unberücksichtigt gelassen oder in Abrede gestellt. Die
Auffassung, dass ohne jegliche medizinische Behandlung 1 bis 2 Jahre ein
sozialer Wechsel gelebt werden sollte, ist menschenverachtend und
diskriminierend. Einem körperlichen Mann ohne feminisierende hormonelle
Behandlung der Lächerlichkeit auszusetzen und aufzuerlegen, sich als Frau in seinem
sozialen wie beruflichen Umfeld zu etablieren um die Lebbarkeit und Akzeptanz
im Alltag zu erproben, ist mittelalterlich. Ich muß also erst 1 bis 2 Jahre mit
meiner Erkrankung im Alltag Erfahrungen sammeln, um eine Behandlung zu
erhalten. Warum wird bei anderen irreversiblen Erkrankungen wie Krebs, HIV,
Amputation, künstlichem Hüftgelenk oder Darmausgang nicht auch verlangt, die
Lebbarkeit zu testen!? Wir wissen was wir wollen. Uns zu bevormunden und zu
entmündigen kann nicht Grundlage von medizinischer Behandlung sein!
Psychotherapie ist für
viele Betroffene ein "rotes Tuch". Wir fühlen uns nicht als psychisch
krank, nur weil wir zu der Erkenntnis gelangten, dass das bisherige Leben als
Mann oder Frau nicht unserer psychischen Identität entspricht. Der oft
Jahrzehnte dauernde Weg zur Selbsterkenntnis wird hier nicht selten völlig
ignoriert. Studien haben auch in der Vergangenheit immer wieder bestätigt, dass
bei Transidentität die Therapiehäufigkeit nicht anders ist, als bei der "
Normalbevölkerung". Zwei Drittel sind psychologisch völlig unauffällig,
wie die Sexualwissenschaft belegt. Was soll also eigentlich therapiert werden,
da Transidentität therapieresistent ist. Auch die Darstellung von Leidensdruck
ist so vielfältig, wie das Farbenspiel des Herbstlaubes im Wald, wenn sich
schon Psychologen nicht vorstellen können, dass ein Mensch unter der Diskrepanz
zwischen eigenen Empfindungen und körperlicher Realität leidet. Die durch
bestehende Behandlung bewußt herbeigeführte körperliche Uneindeutigkeit erzeugt
Leid, wenn dieser Zustand länger andauert als unbedingt erforderlich, falls der
Patient dies nicht wünscht. Auch in der SHG ist derartiges eindeutig belegbar.
Dennoch machen viele eine Therapie, da sie ansonsten keine Kostenübernahme
erhalten würden. 18 Monate Therapie sind alle Male kürzer, als 3 bis über 6
Jahre Klagen vor dem SG oder LSG. Eine Therapie ohne medizinische Notwendigkeit
hingegen ist eine Zwangsmaßnahme, die entsprechend der Charta von Nürnberg
verboten ist. Hier heißt es „... dass niemals mehr ein Mensch in Deutschland
gegen seinen Willen medizinische Maßnahmen unterzogen werden darf!“ Dies
spiegelt die ganze Arroganz von vermeintlichen Experten wieder, den viele
Menschen mit Transidentität auf dem Weg ihrer Behandlung begegnen. Vor jeglicher
Behandlung sollte eine kompetente Aufklärung stehen. Bei Transidentität sind
dazu aber leider nur sehr wenige Menschen umfassend in der Lage. Weder
jahrzehntelange Berufserfahrung, noch eine fachpsychiatrische Ausbildung oder
eine Professur sind Garantie für Kompetenz, wie Gutachten und Umsetzung von
Behandlungen immer wieder belegen. Gerade aus dieser Verkennung von Realitäten,
langen Verfahrenswegen und Behinderungen bei der Weiterbehandlung zur
Erreichung des Behandlungszieles (F64.0), entstehen nicht selten psychische
Belastungen, die Behandlungsbedürftige werden. Dies kann sich auch körperlich
bis hin zur Arbeitsunfähigkeit manifestieren. Unter Achtung aller medizinischen
Gegebenheiten würden viele Probleme bei der Behandlung und im sozialen Umfeld
von Patienten mit Transidentität gar nicht erst aufkommen. Hier wird die
Solidargemeinschaft erheblich zu Unrecht belastet. Wer psychotherapeutische
Hilfe in Anspruch nehmen möchte, muss natürlich auch die Möglichkeit haben.
Dies aber als Voraussetzung zu fordern, widerspricht jeglichem Ansinnen der
Humanmedizin.
Jetzt werden viele aufschreien und meinen, man müsse uns ja
vor uns selbst schützen! Wer schützt uns vor diesem Irrsinn? Die Begründung
darin zu suchen, dass ein oder zwei Rückwandlungen unter 100 Betroffenen dies
erfordere, rechtfertigt es nicht, bei 98 Betroffenen das Leiden zu verstärken
oder neue Leiden zu verursachen. In der SHG sind bis heute nur zwei Fälle
bekannt, bei denen der soziale Wechsel abgebrochen wurde bzw. der Wunsch nach
Rückwandlung bestand, wobei hier seit Jahren bestehende psychische Erkrankungen
falsch interpretiert wurden und andererseits fehlende Aufklärung ursächlich
waren. Es könnte vielen Betroffenen Leid erspart werden, wenn wir nicht als
abartig oder psychisch Krank angesehen würden, sondern als eine Facette der
menschlichen Evolution, die durchaus liebenswert und integrationsfähig ist. Im
beruflichen Leben können wir sehr wohl für viele tausend Menschen und Millionen
an Technik Verantwortung übernehmen. Eigenverantwortung wird uns aber
abgesprochen. Andere müssen über uns entscheiden. Sicher ist es ein Problem für
die Schulmedizin, das Transidentität bis heute nur über die Ausschlußdiagnostik
mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Solange aber Empfehlungen
zur Behandlung ohne Mitwirkung von Patienten erarbeitet werden, ist dies, als
ob Blinde Alltagshilfen für Körperbehinderte entwickeln. Wir möchten ganz
normal als Frau oder Mann wahrgenommen werden. Wie sind keine Menschen zweiter
Klasse, es sei denn wir machen uns selbst dazu.
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