Montag, 23. Juli 2012

Transidentisches Anliegen Was ist weiblich, was ist männlich?


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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012

Transidentisches Anliegen
Was ist weiblich, was ist männlich?

(Deutsches Ärzteblatt / PP/ Heft 4 / April 2008)

Unsere Anmerkungen zu diesem Artikel

(Brief an die Redaktion des Deutschen Ärzteblatt)

Sehr geehrte Damen und Herren,
zu der Veröffentlichung im Wissenschaftsteil PP Heft 4 vom April 2008 wurde ein Artikel zur Problematik Transsexualität /Transidentität veröffentlicht. Da von völlig falschen Grundlagen ausgegangen wurde, halten wir es für dringend erforderlich, dies nicht nur aus Sicht betroffener Patienten richtigzustellen. Es ist sicher lobenswert, wenn sich Mediziner und Psychologen dieser Thematik annehmen. Das Problem ist aber, selbst in bester Absicht, wie auch im Artikel von Frau Dr. phil Marion Sonnenmoser ersichtlich, dass von längst überholten und irrealen Annahmen und Vorstellungen ausgegangen wird. Daher sind auch falsche Schlussfolgerungen zwangsläufig. Es soll hiermit versucht werden, die Tatsachen korrekt darzulegen und somit eine effiziente Behandlung von Menschen mit Transidentität zu gewährleisten.

Die Darlegung, dass es 2000 bis 6000 Menschen in Deutschland gibt, die von Transidentität betroffen sind, ist Schönfärberei oder das bewusste Ignorieren von Tatsachen. Das TSG (Transsexuellengesetz) gibt es seit 1980. Wenn in jedem Bundesland im Durchschnitt nur 50 Personen nach §1 TSG eine Vornamensänderung beantragen (in Berlin und Brandenburg durchschnittlich etwa 150 jährlich), sind seit Bestehen des TSG also mindestens 20. 000 Menschen mit Transidentität aktenkundig. Die Anzahl der Betroffenen, die sich in hormoneller oder anderer medizinischer Behandlung befinden ist aber mit Sicherheit mehr als doppelt so hoch. Transidentität gab es auch schon vor dem TSG. Man muß also davon ausgehen, dass real etwa 50. 000 bis 60. 000 Menschen in Deutschland einen sozialen Wechsel vollzogen haben, die heute noch leben. Weltweite Studien ergaben Anfang der 90er Jahre eine Häufigkeit in der Bevölkerung von 0,5%. Hier sei das Buch " Das Monalisa-Syndrom" zu empfehlen (leider nur noch gebraucht erhältlich).

Die Aussage, dass lediglich 43 bis 50% der Betroffenen eine chirurgische Angleichung wünschen, widerspricht den realen Erfahrungen von weit über 500 Betroffenen, seit Bestehen der SHG 1999 und den bundesweiten Erfahrungen von Institutionen, Verbänden oder Vereinen. Bisher sind mir z. B. im Raum Berlin - Brandenburg nur zwei Fälle bekannt, die für sich körperverändernde chirurgische Behandlungen dauerhaft ausschließen. Allerdings ist es Tatsache, dass die Missachtung des Grundanliegens der Humanmedizin " Durch eine Behandlung das bestehende Leid eines Patienten nicht zu verschlimmern, bzw. dem Patienten kein neues Leid zuzufügen" und das Ignorieren des Behandlungszieles entsprechend der WHO in den ICD 10 F64.0 ...den eigenen Körper den bevorzugten (psychischem) Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen" , durch MDK und Krankenkassen, entgegen der Therapiehoheit behandelnder Fachärzte, eine Weiterbehandlung und somit körperangleichende Maßnahmen erheblich behindert werden. Die SHG verzeichnet jährlich 40 bis 70 Neuzugänge. Im gleichen Zeitraum erhalten aber weniger als 10% eine Kostenübernahme für operative körperangleichende Behandlungen, meist wegen fehlendem "Alltagstest", fehlender Psychotherapie, fehlender Vornamensänderung oder anderen für eine medizinische Behandlung irrealen Annahmen.
Darlegungen zum "Vorgehen bei angestrebter Geschlechtsumwandlung" sind nicht nur sachlich falsch, sondern menschenverachtend. Zuerst einmal kann kein Mensch sein Geschlecht wechseln. Bis heute kennt die Wissenschaft keine eindeutige Definition für Mann oder Frau. Auch die chromosomale Grundlage besteht lebenslang.

Die genitale Zwangszuweisung durch den sogenannten "Hebammenblick“ bei der Geburt, wird gesellschaftlich wie rechtlich als Grundlage angesehen. Dies ist aber nicht in jedem Fall real, wie Transidentität bzw. Hermaphroditen immer wieder verdeutlichen. Die Auffassung, dass hier 5 Stufen durchlaufen werden müssen und wie dies zu erfolgen hat, steht nicht nur im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Schulmedizin, sondern verletzt auch Grundrecht.
Bei der Diagnose wird leider oft die "Selbstdiagnose" des Patienten in Abrede gestellt. Warum? Gerade die Selbstwahrnehmung, das sichere Gefühl als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, ist ja der Grund, warum wir einen Arzt konsultieren. Wie auch bei anderen Erkrankungen erwarten wir eine Behandlung, die das Leiden lindern soll. Wenn keine psychischen Erkrankungen vorliegen, gibt es keine Rechtfertigung, die Selbstwahrnehmung in Abrede zu stellen, wenn sich der Patient über die Konsequenzen, Möglichkeiten und Risiken einer Behandlung im Klaren ist.

Ein Alltagstest wird auch von vielen Betroffenen für sinnvoll gehalten. Es muß doch aber jedem einzelnen Patienten überlassen sein, in welcher Art und Weise, und in welchem Zeitraum er zu der sicheren Erkenntnis gelangte, dass ein Leben als Mann oder Frau seiner psychischen Identität entspricht und ob dies gesellschaftlich wie kulturell auch lebbar ist. Hier wird aber oft der lange Weg der Selbsterkenntnis unberücksichtigt gelassen oder in Abrede gestellt. Die Auffassung, dass ohne jegliche medizinische Behandlung 1 bis 2 Jahre ein sozialer Wechsel gelebt werden sollte, ist menschenverachtend und diskriminierend. Einem körperlichen Mann ohne feminisierende hormonelle Behandlung der Lächerlichkeit auszusetzen und aufzuerlegen, sich als Frau in seinem sozialen wie beruflichen Umfeld zu etablieren um die Lebbarkeit und Akzeptanz im Alltag zu erproben, ist mittelalterlich. Ich muß also erst 1 bis 2 Jahre mit meiner Erkrankung im Alltag Erfahrungen sammeln, um eine Behandlung zu erhalten. Warum wird bei anderen irreversiblen Erkrankungen wie Krebs, HIV, Amputation, künstlichem Hüftgelenk oder Darmausgang nicht auch verlangt, die Lebbarkeit zu testen!? Wir wissen was wir wollen. Uns zu bevormunden und zu entmündigen kann nicht Grundlage von medizinischer Behandlung sein!

Psychotherapie ist für viele Betroffene ein "rotes Tuch". Wir fühlen uns nicht als psychisch krank, nur weil wir zu der Erkenntnis gelangten, dass das bisherige Leben als Mann oder Frau nicht unserer psychischen Identität entspricht. Der oft Jahrzehnte dauernde Weg zur Selbsterkenntnis wird hier nicht selten völlig ignoriert. Studien haben auch in der Vergangenheit immer wieder bestätigt, dass bei Transidentität die Therapiehäufigkeit nicht anders ist, als bei der " Normalbevölkerung". Zwei Drittel sind psychologisch völlig unauffällig, wie die Sexualwissenschaft belegt. Was soll also eigentlich therapiert werden, da Transidentität therapieresistent ist. Auch die Darstellung von Leidensdruck ist so vielfältig, wie das Farbenspiel des Herbstlaubes im Wald, wenn sich schon Psychologen nicht vorstellen können, dass ein Mensch unter der Diskrepanz zwischen eigenen Empfindungen und körperlicher Realität leidet. Die durch bestehende Behandlung bewußt herbeigeführte körperliche Uneindeutigkeit erzeugt Leid, wenn dieser Zustand länger andauert als unbedingt erforderlich, falls der Patient dies nicht wünscht. Auch in der SHG ist derartiges eindeutig belegbar. Dennoch machen viele eine Therapie, da sie ansonsten keine Kostenübernahme erhalten würden. 18 Monate Therapie sind alle Male kürzer, als 3 bis über 6 Jahre Klagen vor dem SG oder LSG. Eine Therapie ohne medizinische Notwendigkeit hingegen ist eine Zwangsmaßnahme, die entsprechend der Charta von Nürnberg verboten ist. Hier heißt es „... dass niemals mehr ein Mensch in Deutschland gegen seinen Willen medizinische Maßnahmen unterzogen werden darf!“ Dies spiegelt die ganze Arroganz von vermeintlichen Experten wieder, den viele Menschen mit Transidentität auf dem Weg ihrer Behandlung begegnen. Vor jeglicher Behandlung sollte eine kompetente Aufklärung stehen. Bei Transidentität sind dazu aber leider nur sehr wenige Menschen umfassend in der Lage. Weder jahrzehntelange Berufserfahrung, noch eine fachpsychiatrische Ausbildung oder eine Professur sind Garantie für Kompetenz, wie Gutachten und Umsetzung von Behandlungen immer wieder belegen. Gerade aus dieser Verkennung von Realitäten, langen Verfahrenswegen und Behinderungen bei der Weiterbehandlung zur Erreichung des Behandlungszieles (F64.0), entstehen nicht selten psychische Belastungen, die Behandlungsbedürftige werden. Dies kann sich auch körperlich bis hin zur Arbeitsunfähigkeit manifestieren. Unter Achtung aller medizinischen Gegebenheiten würden viele Probleme bei der Behandlung und im sozialen Umfeld von Patienten mit Transidentität gar nicht erst aufkommen. Hier wird die Solidargemeinschaft erheblich zu Unrecht belastet. Wer psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, muss natürlich auch die Möglichkeit haben. Dies aber als Voraussetzung zu fordern, widerspricht jeglichem Ansinnen der Humanmedizin.

Jetzt werden viele aufschreien und meinen, man müsse uns ja vor uns selbst schützen! Wer schützt uns vor diesem Irrsinn? Die Begründung darin zu suchen, dass ein oder zwei Rückwandlungen unter 100 Betroffenen dies erfordere, rechtfertigt es nicht, bei 98 Betroffenen das Leiden zu verstärken oder neue Leiden zu verursachen. In der SHG sind bis heute nur zwei Fälle bekannt, bei denen der soziale Wechsel abgebrochen wurde bzw. der Wunsch nach Rückwandlung bestand, wobei hier seit Jahren bestehende psychische Erkrankungen falsch interpretiert wurden und andererseits fehlende Aufklärung ursächlich waren. Es könnte vielen Betroffenen Leid erspart werden, wenn wir nicht als abartig oder psychisch Krank angesehen würden, sondern als eine Facette der menschlichen Evolution, die durchaus liebenswert und integrationsfähig ist. Im beruflichen Leben können wir sehr wohl für viele tausend Menschen und Millionen an Technik Verantwortung übernehmen. Eigenverantwortung wird uns aber abgesprochen. Andere müssen über uns entscheiden. Sicher ist es ein Problem für die Schulmedizin, das Transidentität bis heute nur über die Ausschlußdiagnostik mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. Solange aber Empfehlungen zur Behandlung ohne Mitwirkung von Patienten erarbeitet werden, ist dies, als ob Blinde Alltagshilfen für Körperbehinderte entwickeln. Wir möchten ganz normal als Frau oder Mann wahrgenommen werden. Wie sind keine Menschen zweiter Klasse, es sei denn wir machen uns selbst dazu.

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