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Bearbeitet von Nikita Noemi
Rothenbächer 2012
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Die Frage des Tages!
Nur eine einzige Einteilung der Menschen in zwei Gruppen hat
sich über alle Kulturen, Völker und historische Epochen als stabil erwiesen:
die in Frauen und Männer. Doch selbst hier begegnen uns immer wieder Personen,
die die klaren Grenzen verwischen, die zwei Geschlechter in sich zu tragen
scheinen.
„Ist es ein Junge
oder ein Mädchen?" So lautet sinngemäß die erste Frage, die
frischgebackene Eltern nach der Geburt an Arzt und Krankenschwestern richten.
Doch selbst da, wo die Frage aufgrund eindeutiger körperlicher Indizien
eindeutig beantwortet wird, kann sich später herausstellen, daß das Mädchen
sich beharrlich weigert, Kleider zu tragen und mit Puppen zu spielen. Der Junge
hat dagegen nichts lieber, als sich in Mädchenkleidern vor dem Spiegel zu drehen
und in das Schminkköfferchen seiner Mutter zu greifen. Mit dem falschen Gehirn
geboren, neurotisch oder lediglich Lust an Verkleidung und Schauspielerei?
Homosexualität und Transsexualität weisen viele
Gemeinsamkeiten, insbesondere die sexuelle Orientierung auf Angehörige des
eigenen Geschlechts, weswegen sie oft verwechselt werden. Schwule Männer und
lesbische Frauen fühlen sich aber stets als das, was sie von ihrem Äußeren her
sind: als Männer bzw. Frauen.
Transsexualität bedeutet dagegen, daß das eigene Empfinden
der Geschlechtszuschreibung der Umwelt nicht entspricht. Der Mann fühlt sich
als Frau, die Frau fühlt sich als Mann. Deswegen sind sie nur für die Umwelt
homosexuell. Sie selbst empfinden heterosexuell: der Mann mit weiblicher
Identität interessiert sich als Frau für Männer. Und umgekehrt.
Für Medizin und Psychologie stellt Transsexualität immer
noch ein Rätsel dar. Folgende Theorien über die Gründe für den
Geschlechtswechsel werden diskutiert:
Gendefekt: Irgendein Gen, das die Übereinstimmung von
körperlichem und psychischem Geschlecht regelt, ist entweder defekt oder es
wirkt aufgrund eines Fehlers bei der Zellteilung in den ersten
Schwangerschaftswochen das Gen für das andere Geschlecht.
Vorgeburtlicher Streß. Zu einem Zeitpunkt, da sich das Geschlecht
des Embryos entwickelt, war die Mutter einem Streß ausgesetzt – psychischer
Mißhandlung, Angst, Mißerfolgen oder biologischen Einwirkungen (Drogen,
Alkohol, Nikotin) – dadurch wurde ein wichtiger Entwicklungsschritt bei der
eindeutigen Geschlechtsfestlegung ausgelassen.
Angeborene Bisexualität: Diese Theorie geht von der
Vorstellung aus, daß das menschliche Geschlecht prinzipiell nicht eindeutig
festgelegt ist, sondern erst die Kultur uns in bestimmte Geschlechtsrollen
zwingt. Von Simone de Beauvoir stammt der Satz: On ne naît pas femme: on le
devient. (deutsch: Man wird als Frau nicht geboren, sondern wird es.) Danach
wären Transsexuelle diejenigen, die sich die angeborene Zweideutigkeit
erhalten. Diese Theorie wird heute kaum noch vertreten. Nicht nur stehen ihr zu
viele biologische Fakten entgegen, auch die meisten Transsexuellen lehnen sie
ab. Sie empfinden sich nicht unentschieden, sondern meist eindeutiger als Frau
bzw. Mann als die übrigen. Ihr Problem liegt auf einer anderen Ebene: ihre körperliche
Ausstattung stimmt mit dem seelischen Selbstverständnis nicht überein.
Erziehungseffekte: Der Vater hat sich eigentlich einen
Jungen gewünscht und erzieht deshalb seine Tochter „männlich". Umgekehrt
werden Söhne von besitzergreifenden Müttern überbehütet und verzärtelt, vor
allem wenn der Vater abwesend ist. Dadurch entwickeln vor allem sensible Jungen
eine weibliche Identität.
Kultureller Protest: Nach dieser Theorie entscheiden sich
einige Frauen bewußt für eine männliche Identität, um der Diskriminierung ihres
Geschlechts zu entgehen. Ihr berühmtestes Vorbild ist Jeanne d’Arc. In der
Literatur kommen immer wieder Frauen vor, die sich als Männer verkleiden, um
etwas zu erreichen, was ihrem Geschlecht verboten ist. Denken wir nur an
„Yentl" (Film mit Barbra Streisand), der Geschichte einer Jüdin, die sich
als Mann ausgab, um eine Talmudschule besuchen zu können. Umgekehrt
protestieren Männer gegen das Establishment und soldatische Tugenden, indem sie
sich als Transvestiten geben, mit weiblichem Verhalten eine Gegenkultur
etablieren. Daher die enge Verbindung von Transvestiten und Kunstszene.
Hartmut Bosinski von der Universität Kiel testete kürzlich
alle Theorien an derselben Stichprobe weiblicher und männlicher
„unbehandelter" Transsexueller. „Unbehandelt" meint, daß sich keiner
von ihnen bisher Maßnahmen der Geschlechtsumwandlung unterzog. Dabei fand er
als häufigsten Fall die Kopplung von angeborenem Streß mit Erziehungseffekten.
Das heißt, trifft ein Kind mit uneindeutiger Geschlechtsidentität auf Umstände,
die einen Wechsel des Geschlechts fördern (wie der Vater, der seine Tochter
lieber als Sohn sehen möchte), so steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich
Transsexualität entwickelt. Aber es zeigte sich auch, daß es immer wieder
Transsexuelle gibt, bei der sich überhaupt keine auslösende Ursache finden
läßt.
Die meisten Faktoren haben nur einen statistischen Effekt,
der nicht viel über den Einzelfall sagt. Ein Beispiel: Bei den
Frau-zu-Mann-Transsexuellen fand Bosinski in 83 Prozent der Fälle einen erhöhten
männlichen Hormonspiegel. Gut, aber warum wurden die übrigen 17 Prozent
transsexuell? Und: Bei nicht Transsexuellen haben immerhin 33 Prozent der
Frauen ebenfalls einen erhöhten männlichen Hormonspiegel. Warum haben sie kein
Bedürfnis nach einem Wechsel ihrer Geschlechtsidentität?
Vielleicht liegt der Grund in der Erziehung? Tatsächlich
entstammen überdurchschnittliche viele Transsexuelle vaterlosen Familien. Viele
können sich erinnern, daß ihre Mutter ein Spielverhalten förderte, daß nicht
ihrem biologischen Geschlecht entsprach. Für die Frau-zu-Mann-Transsexuellen
bedeutete die erste Regel seelisch eine Katastrophe. Aber auch hier handelt es
sich nur um Indizien. Viel mehr, die solche Bedingungen in der Kindheit
erlebten, wurden nicht transsexuell, während eine nicht unbeträchtliche
Minderheit von Transsexuellen aus ganz „normalen" Elternhäusern stammt.
Wahrscheinlich gibt es keine eindeutige Ursache für den
Geschlechtswechsel. Der Begriff Transexualität suggeriert, daß es sich um ein
einheitliches Phänomen handelt. Aber in Wahrheit liegt nur eine äußerliche
Ähnlichkeit vor, und die Gründe sind in jedem Fall anders. Um das zu verstehen,
müssen wir uns nur anschauen, wie das Geschlecht des Individuums sich
entwickelt.
Wir haben alle in der Schule gelernt, daß das Geschlecht
genetisch festgelegt ist. Die weiblichen Eizellen tragen ausschließlich
X-Chromosomen, während zwei Arten männlicher Samenzellen vorkommen, eine Hälfte
trägt X-Chromosomen, die andere Hälfte Y-Chromosomen. Nach der Berfruchtung liegt
entweder eine XX-Zygote („Zygote" heißt das Verschmelzungsprodukt von Ei-
und Samenzelle) vor – daraus wird ein Mädchen – oder eine XY-Zygote – ein
zukünftiger Junge – vor.
Wäre damit über das Geschlecht des Kindes entschieden, käme
Transsexualität nicht vor. In Wirklichkeit ist der Prozeß viel komplizierter.
Über das Geschlecht wird nicht nur einmal, sondern mindestens viermal in
zeitlichen Abständen entschieden. Wir haben nicht nur ein (männliches oder
weibliches) Geschlecht, sondern vier:
Das genetische Geschlecht: XX (weiblich) oder XY (männlich).
Das hormonelle Geschlecht: die Erbanlagen auf dem XX- bzw.
XY-Chromosom sorgen zunächst nur für die Hormone, also Botenstoffe, die im
Körper kreisen und die eigentliche Geschlechtsentwicklung einleiten. Fehlen
männliche, also Y-Geninformationen, entstehen automatisch weibliche Hormone.
Das weibliche Geschlecht ist also immer primär. Ein Junge entwickelt sich nur,
wenn zu den weiblichen männliche Informationen hinzukommen. Tritt bei der
Ablesung des Y-Anteils im Geschlechtschromosom ein Fehler auf, entwickelt sich
wegen rein weiblicher Hormone ein Mädchen, trotz der XY-Genanlage.
Das körperliche Geschlecht: die Hormone steuern die
Entwicklung der weiblichen oder männlichen Geschlechtsorgane, aber auch der
entsprechenden Zentren im Gehirn. Dadurch empfinden wir später so, wie wir
äußerlich gebaut sind. Tritt hier ein Fehler in der vorgeburtlichen Entwicklung
auf – etwa durch Streß der Mutter – können verschiedene Abweichungen auftreten.
Die männlichen Geschlechtsorgane eines XY-Kindes entwickeln sich nur teilweise.
Bei der Geburt hat das Kind dann einen kleinen Penis, aber auch Schamlippen.
Oder die körperliche Entwicklung ist männlich, aber das Gehirn empfindet
„weiblich". Das wäre eine mögliche Ursache für Transsexuelität, aber auch
für Homosexualität. Der Unterschied liegt dann in der Frage, ob nur die
sexuelle Orientierung (Homosexualität) oder auch die sexuelle Identität
(Transsexualität) von der Abweichung betroffen ist.
Das psychosoziale Geschlecht: Der Grundstock wird mit der
vorgeburtlichen Gehirnentwicklung gelegt. Entscheidend für das Endergebnis ist
aber die Erziehung. Welche Rollenmuster aus der Umgebung verbindet das Kind mit
seiner angeborenen Geschlechtsidentität? Hier hat die Umwelt einen großen Einfluß.
Ist das Gehirn aber durch Einwirkung der „falschen" Hormone vor der Geburt
auf eine andere Identität geprägt als sein Körperbau vermuten läßt, wählt das
Kind auch spontan und gegen den Widerstand der Eltern das Spielzeug, die
Kleidung und typische Verhaltensweisen des anderen Geschlechts.
Wird bei allen vier Etappen der Entwicklung das genetische
Geschlecht bestätigt, wird sich das Kind klar als Mann oder Frau verstehen.
Wird aber mal das eine und mal das andere Geschlecht „gewählt", ist eine
Form der Transsexualität das Ergebnis. Die Person fühlt sich innerlich
zerrissen und von der Umwelt gedrängt, die Geschlechtsidentität zu wählen, die
seinem körperlichen Äußeren entspricht. Häufig – aber nicht immer! – ist das
psychosoziale Geschlecht stärker. Das Resultat: der oder die Betroffene
entscheidet sich für eine Geschlechts-umwandlung, also für eine Anpassung des
körperlichen an das psychische Geschlecht. Trotz der Komplikationen und zum
Teil schweren Nebenwirkungen, die eine solche heikle Operation mit sich bringt.
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