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Geschlechtsidentität
und -dysphorie
Geschlechtsidentität wird dann thematisiert, wenn
Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtsidentität auftritt, wie beispielsweise
bei Vorliegen von Unfruchtbarkeit („Bin ich eine richtige Frau, ein richtiger
Mann?“), Körper und Geschlechtsidentitätserleben nicht übereinstimmen wie im
Falle der Transsexualität , oder Identitätserleben bei Vorliegen eines nicht
eindeutig männlichen oder weiblichen Körpers wie im Falle von Intersexualität
zur Diskussion steht. Medizin und Psychologie hatten es sich in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt, Auffälligkeiten und Abweichungen
im körperlichen und psychischen Bereich vom männlichen oder weiblichen
Geschlecht „zu heilen“, das heißt vorzugsweise zu beseitigen. Kinder und
erwachsene Menschen sollten nicht nur einen möglichst eindeutigen männlichen
oder weiblichen Körper haben, sondern auch eine stabile männliche oder
weibliche Geschlechtsidentität – und diese sollten übereinstimmen. Eine binäre
Vorstellung von Geschlecht bestimmte das Denken.
Bei der Behandlung von Personen, deren Körper und
Geschlechtserleben nicht einander entsprechen, spielt nicht nur eine zentrale
Rolle, was ein männlicher, weiblicher oder intersexueller Körper, sondern auch,
was eine männliche, weibliche oder uneindeutige Geschlechtsidentität ist. Meist
wird jedoch nicht weiter definiert, was man überhaupt unter dem Begriff der
Geschlechtsidentität versteht, und die Binarität nicht hinterfragt. Dabei muss
man berücksichtigen, dass Begriffe der psychosexuellen Entwicklung
uneinheitlich verwendet werden.
Im Gegensatz zu geschlechtstypischem Verhalten, das sich auf
bei einem Geschlecht häufig beobachtete Verhaltensweisen bezieht, dem
geschlechtsspezifischen Verhalten, das jeweils nur bei einem Geschlecht
auftritt (beispielsweise Stillen eines Kindes), bezeichnet der Begriff der
Geschlechtsrolle seit den 1950er Jahren die Gesamtheit der kulturell
erwarteten, als angemessen betrachteten und zugeschriebenen Fähigkeiten,
Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen des jeweiligen Geschlechts. Sie
unterliegen einem Wandel innerhalb der und zwischen den Kulturen.
Geschlechtsidentität ist hingegen das subjektive Gefühl eines Menschen, sich
als Mann oder Frau (oder dazwischen) zu erleben. Dieses Gefühl findet man zu
allen Zeiten und in allen Kulturen. Unter Geschlechtsrollenidentität versteht
man die öffentliche Manifestation der Geschlechtsidentität einer bestimmten
Person in einem bestimmten Rollenverhalten. Sie beinhaltet alles, was eine
Person sagt oder tut, um anderen und/oder sich selbst zu demonstrieren, in
welchem Ausmaß sie sich dem einen oder anderen Geschlecht zugehörig erlebt.
Sexuelle Identität beschreibt das subjektive Erleben einer Person als hetero-,
homo-, bi- oder asexuell. Die sexuelle Präferenzbeschreibt, wodurch eine Person
sexuell erregt wird, die sexuelle Orientierung die Partnerwahl. Meist stimmen
diese mit der sexuellen Identität überein.
Ein besonderes Problem stellt die Vorhersage der
Geschlechtsidentität bei verschiedenen Formen der Intersexualität dar. Die
Unterscheidung zwischen Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsidentität
erscheint hier besonders wichtig. Untypisches Geschlechtsrollenverhalten kommt
sicherlich bei Personen mit verschiedenen Formen der Intersexualität häufiger
vor, sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob eine Person sich in ihrer
Geschlechtsidentität als Mann oder Frau unsicher oder beeinträchtigt fühlt.
Unsichere Geschlechtsidentität bedeutet andererseits aber nicht automatisch,
dass eine Person ihr Geschlecht wechseln möchte. Ein Merkmal von Personen mit
Intersexualität ist, dass sie in ihrem Geschlechtserleben oft nicht eindeutig
sind und entgegen den medizinischen Erwartungen nicht so einfach eindeutig
„geformt“ werden können, und zwar weder was das Aussehen noch ihre
Geschlechtsidentität betrifft.
Unter Intersexualität beziehungsweise Störungen der
Geschlechtsentwicklung ( disorders of sex development (DSD)) werden eine Reihe
unterschiedlicher Phänomene zusammengefasst, bei denen die geschlechtsdeterminierenden
und -differenzierenden Merkmale des Körpers (Chromosomen, Gene, Keimdrüsen,
Hormone, äußere Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale) nicht alle dem
gleichen Geschlecht entsprechen. 3 Von den Betroffenen selbst wird der Begriff
der „Störung der Geschlechtsentwicklung“ kritisiert. Sie bevorzugen die Termini
„Intersexualität“ oder „Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Diese
körperlichen Auffälligkeiten können mit einer Irritation des subjektiven
Geschlechtserlebens einhergehen, unter der die Person leidet, einer
Geschlechtsdysphorie. Während Personen mit Transsexualität in der Regel den
gesunden männlichen oder weiblichen Körper dem subjektiv erlebten Geschlecht
mehr oder minder anpassen möchten, wurden Personen mit Intersexualität oft bereits
in der frühen Kindheit einem Geschlecht zugewiesen ( gender allocation) und
körperlich angeglichen ( sex assignment ). Damit verbunden war die Hoffnung,
auch die Entwicklung einer ungestörten, dem angepassten Geschlecht
entsprechende Geschlechtsidentität zu gewährleisten.
Bei der Definition der Transsexualität stellt sich die
Frage, wie weit der Wunsch nach geschlechtsanpassenden Operationen ( gender
confirming surgery ) beziehungsweise die Erfüllung dieses Wunsches als eine
notwendige und hinreichende Bedingung verstanden werden soll, um von
Transsexualität sprechen zu können. Seit die geschlechtsanpassenden Operationen
keine notwendige Voraussetzung für eine Personenstandsänderung mehr darstellen,
kann ein deutlicher Rückgang beziehungsweise eine verzögertes Anstreben
genitalchirurgischer Eingriffe vor allem bei älteren Personen beobachtet
werden. Kritisiert wird der Begriff „Transsexualität“ von denjenigen, die der
Auffassung sind, es handle sich vielmehr um eine Frage der Identität oder des
Körpers, nicht aber um eine Frage der Sexualität. Sie sprechen daher lieber von
„Transidentität“ oder „Transgender“. Im internationalen medizinischen
Klassifikationssystem wird weder der Begriff „Transsexualität“ noch
„Transidentität“ verwendet, sondern von einer Störung der Geschlechtsidentität
gesprochen.
Störungen der körperlichen Geschlechtsentwicklung
beziehungsweise Intersexualität stellen bisher ein Ausschlusskriterium für die
Vergabe der Diagnose Störung der Geschlechtsidentität/Transsexualität dar. Das
soll aber nicht heißen, dass nicht auch bei Personen mit Intersexualität
Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtsidentität bestehen kann. Hier ist es
meist aber eine Unsicherheit, irgendwie anders zu sein, und weniger das Gefühl
oder der Wunsch, dem anderen, nicht dem Körper entsprechenden Geschlecht
anzugehören. Zurzeit wird von internationalen Experten diskutiert, ob man den
Begriff der Transsexualität beziehungsweise Störung der Geschlechtsidentität
nicht ganz fallen lassen und lieber nur dann von einer Geschlechtsdysphorie
sprechen sollte, wenn eine Person unter der Unsicherheit hinsichtlich ihres
Geschlechtserlebens leidet. In diesem Fall sei es auch gerechtfertigt, von
einer psychischen Störung zu sprechen. Geschlechtsdysphorie könne sowohl bei
Personen mit Transsexualität wie bei Personen mit Intersexualität auftreten,
werde aber nicht bei allen beobachtet. Transsexualität wäre keine
psychiatrische Diagnose mehr.
Auch die Betrachtung, was eine transsexuelle Frau oder ein
transsexueller Mann sei und wie man die sexuelle Orientierung bezeichnen solle,
hat sich geändert. Die psychiatrische Diagnosestellung, aber auch die deutsche
Gesetzgebung nach dem Transsexuellengesetz betrachtet eine transsexuelle Frau
als eine Frau mit einer psychiatrischen Diagnose, der Störung der
Geschlechtsidentität. Im jüngeren Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff
„transsexuelle Frau“ demgegenüber eine Person, die sich als Frau erlebt, jedoch
mit den äußeren und inneren körperlich-biologischen Geschlechtsmerkmalen eines
Mannes geboren worden ist, also auf eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle.
Identität und Geschlechtsidentität
Auf die Frage „Wer bin ich?“ können verschiedene Aspekte des
Identitätserlebens herausgegriffen werden, wie etwa die Nationalität („Ich bin
Franzose“), eine Erkrankung („Ich bin Diabetiker“), aber auch die Ausübung
einer Sportart („Ich bin Tennisspielerin“). Die Geschlechtsidentität bezeichnet
die Kontinuität des Selbsterlebens eines Menschen bezogen auf sein Geschlecht.
Die Geschlechtsidentität kann als männlich, weiblich oder dazwischen erlebt
werden. Geschlechtsidentität ist nur ein Aspekt des Geschlechtserlebens, das
eng verbunden ist mit dem Geschlechtsrollenverhalten, der sexuellen Identität
beziehungsweise Orientierung und Partnerwahl. Körperlich-biologische Faktoren
scheinen ebenso einen Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität zu
haben wie psychische und soziale Bedingungen. Vor und kurz nach der Geburt
wirksame und in der Entwicklung bedeutsame Hormone als Folge von genetischen
und epigenetischen Prädispositionen können das Erleben der Geschlechtsidentität
beeinflussen, 6 sowie Erziehungsmaßnahmen der Eltern und Identifizierungen und
Selbstkategorisierungen des Kindes. Hinzu kommen kulturelle Normen und
Geschlechtsrollenerwartungen. Lange Zeit wurde angenommen, dass die Entwicklung
der Geschlechtsidentität mit dem dritten Lebensjahr weitgehend abgeschlossen
sei und sich im Laufe des Lebens nicht mehr ändern würde. Auch wurde
angenommen, dass die sexuelle Identität sich im Laufe der Pubertät herausbilden
und dann stabil bleiben würde. Beide Annahmen werden heute kritisch
hinterfragt.
Psychoanalyse und Geschlechtsidentität
Oft wird der Psychoanalyse vorgeworfen, sie habe die
Behandlung von Personen mit Problemen der Geschlechtsidentität negativ beeinflusst,
indem sie eine eingeengte und unflexible Betrachtung der Geschlechtsidentität
innerhalb der psychosexuellen Entwicklung angenommen habe. Abgesehen davon,
dass es innerhalb der Psychoanalyse viele unterschiedliche Schulen gibt, gilt
es auch zu berücksichtigen, dass Sigmund Freud als Gründer der Psychoanalyse
eine sehr offene und fortschrittliche Auffassung der Entwicklung des
Geschlechtserlebens vertrat, auch wenn er nicht direkt den Begriff der
Geschlechtsidentität verwendete. Seine Auffassungen zur „konstitutionellen
Bisexualität“ gehen davon aus, dass jeder Mensch sowohl männliche wie auch
weibliche Anteile in sich trägt, und zwar sowohl im biologischen als auch im
psychologischen Sinn, und daraus resultiere, dass jeder sowohl hetero- wie homosexuelle
Neigungen habe, die er jedoch oft verleugne. Wenngleich es sich bei diesen
Überlegungen nicht um das Erleben eines Menschen im „falschen“ Körper handelt,
bleiben diese Stellen aus Freuds Arbeiten auch heute noch vor allem im
Zusammenhang mit Intersexualität durchaus erwähnenswert. 7
In den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie aus dem Jahr 1905
beschäftigt sich Freud mit dem Problem des Hermaphroditismus. Seine
Überlegungen beziehen sich nicht nur auf die psychische Seite des Menschen,
sondern auch auf die körperliche. „Die Wissenschaft kennt aber Fälle, in denen
die Geschlechtscharaktere verwischt erscheinen und somit die
Geschlechtsbestimmung erschwert wird; zunächst auf anatomischem Gebiet. Die
Genitalien dieser Personen vereinigen männliche und weibliche Charaktere
(Hermaphroditismus). In seltenen Fällen sind nebeneinander beiderlei
Geschlechtsapparate ausgebildet (wahrer Hermaphroditismus); zu allermeist
findet man beidseitige Verkümmerungen (…). Ein gewisser Grad von anatomischem
Hermaphroditismus gehört nämlich der Norm an; bei keinem normal gebildeten
männlichen oder weiblichen Individuum werden die Spuren vom Apparat des anderen
Geschlechts vermisst.“ Daraus ergebe sich eine ursprüngliche bisexuelle
Veranlagung, die sich im Laufe der Entwicklung zur Monosexualität entwickle.
Allerdings meint Freud auch, dass man sich nicht eine zu nahe Beziehung
zwischen psychischem und nachweisbarem „anatomischem Zwittertum“ vorstellen
dürfe. Zur Bisexualität führt er weiter aus: „Diese ergibt für den Menschen,
dass weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine
Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr
eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen
des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf.“ Damit sieht Freud in biologischen Gegebenheiten eine wichtige Grundlage für
seine Auffassung der psychischen Bisexualität. Diese Beschreibungen entsprechen
der modernen Auffassung eines männlichen beziehungsweise weiblichen Körpers.
Freuds Überlegungen zur Bisexualität sind einer
Konzeptualisierung einer dem körperlichen Geschlecht entsprechenden weiblichen
beziehungsweise männlichen Geschlechtsidentität gewichen. Erst in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand eine erneute Auseinandersetzung zum
Zusammenspiel von auf das Geschlecht bezogenen körperlichen Phänomenen und dem
Geschlechtsidentitätserleben statt. Dem Zeitgeist entsprechend haben zwei
Aspekte eine zentrale Rolle gespielt: erstens die Einführung neuer
medizinischer Methoden, die es ermöglichen sollten, körperliche Auffälligkeiten
bezogen auf die Geschlechtsentwicklung sowohl mit Sexualhormonen als auch durch
chirurgische Maßnahmen zu behandeln. Dabei darf nicht übersehen werden, wie
sehr Menschen mit entweder nicht eindeutigem Geschlecht, aber auch diejenigen
Menschen, die den Körper als nicht ihrem Geschlecht entsprechend empfanden,
darunter gelitten haben. Mediziner und Psychologen verfolgten das Ziel, dieses
Leid zu lindern. Zweitens griff auf psychologischer Seite die Auffassung um
sich, man könne durch Erziehung das Geschlecht eines Kindes beeinflussen, ja
formen und selbst bei einem nichteindeutigen körperlichen Geschlecht könne man
ein Kind so erziehen, dass es eine eindeutig weibliche oder männliche „stabile“
Geschlechtsidentität entwickle. In der Anlage-Umwelt-Diskussion überwog die
Betonung der Bedeutung der Umwelt. Entsprechend dieser Entwicklungen meinten
auch Psychoanalytiker, Menschen mit auffälligem oder „falschem“ Körper so
behandeln zu können, dass andere und im optimalen Fall auch die Person selbst
nichts oder kaum etwas von der Ausgangssituation merken würden. Um ihnen
Diskriminierungen zu ersparen, sollten sie und in vielen Fällen auch die
Angehörigen bei Vorliegen von intersexuellen Phänomenen möglichst nie etwas von
den ursprünglichen Geschlechtsgegebenheiten und den folgenden Behandlungen
erfahren, was bei vielen Betroffenen über Jahrzehnte zu kumulativen Traumata
führte.
Der Psychologe John Money empfahl, Personen mit
„Hermaphroditismus“ zu helfen, indem sowohl körperlich als auch psychisch ein
eindeutiges Geschlecht ( sex/gender) hergestellt werden sollte. Von
psychoanalytischer Seite spielte hier Robert Stollers Begriff der
Kerngeschlechtsidentität eine zentrale Rolle, der sich mit Fragen der
Entstehung von Transsexualität beschäftigte. Seine Theorie wirkte für die
Behandlung auch von Personen mit Intersexualität bis ins 21. Jahrhundert nach.
Er verstand unter Kerngeschlechtsidentität eine sehr früh erworbene Überzeugung
eines Kindes, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Diese Überzeugung werde
in den meisten Fällen konfliktfrei erworben. Der Einfluss der Eltern, die ihre
unbewussten Wünsche und Überzeugungen an das Kind herantrügen, sei dabei entscheidend.
Im Alter vom 18. bis 24. Monat wisse ein Kind, welchem Geschlecht es angehöre,
und dieses Wissen bleibe auch in der weiteren Entwicklung weitgehend stabil. In
den meisten Fällen stimme die Kerngeschlechtsidentität mit dem körperlichen
Geschlecht überein. Identifizierungsprozesse mit beiden Elternteilen seien
dabei von Wichtigkeit. Mädchen wie Jungen würden sich zunächst durch die enge
Beziehung zur Mutter mit dieser identifizieren. Der Junge müsse dann einen
Prozess der Desidentifizierung von der Mutter durchlaufen, um sich mit dem
Vater identifizieren zu können. Stoller nahm an, dass Transsexuelle bereits in
diesem frühen Alter eine „transsexuelle Kerngeschlechtsidentität“, das heißt
dem Körper widersprechende Identität entwickeln können.
Zunächst Money und später Ethel Person und Lionel Ovesey konzeptualisierten den Begriff der Geschlechtsrollenidentität, worunter nicht
nur das Erleben als Mann oder Frau verstanden wird, sondern vielmehr das
geschlechtliche Selbstbild im Hinblick auf gesellschaftliche Erwartungen und
Normierungen.
Diesen Ansätzen liegt ein binäres Verständnis von Geschlecht
zugrunde, das heißt, sowohl Betroffene als auch Therapeuten, Endokrinologen und
Chirurgen standen vor der Frage, ob es sich bei Personen, deren Geschlechtsidentität
nicht ihrem Körper entsprach, um einen Mann oder eine Frau jeweils im falschen
Körper, um einen wahren Transsexuellen handle. Nach der Einführung von neuen
Behandlungsmöglichkeiten mit Hormonen und chirurgischen Eingriffen stand über
Jahre die Auffassung im Zentrum, wer transsexuell ist, strebe in jedem Fall
eine möglichst vollständige medizinische Anpassung an das andere Geschlecht an.
Erfahrungen der vergangenen Jahre haben uns eines Besseren belehrt und auch die
psychoanalytische Betrachtung der Entwicklung der Geschlechtsidentität
beeinflusst. In der modernen Psychoanalyse geht es nicht mehr um eine
Anlage-Umwelt-Gegenüberstellung, sondern um eine multifaktorielle
Determinierung des Identitätserlebens, das sehr viel vielfältiger ausfallen
kann als ausschließlich männlich oder weiblich.
Geschlechtsidentität wird somit nicht mehr als das Ergebnis
eines psychosexuellen Entwicklungsschrittes angesehen, der mit dem zweiten bis
dritten Lebensjahr abgeschlossen ist. Sie entwickelt sich in einem jahrelangen
Prozess, wobei man annehmen kann, dass sie in vielen Fällen weitgehend
konfliktfrei erlebt wird, in anderen Fällen zu unterschiedlichen Zeitpunkten
der Entwicklung es zu einem Hinterfragen, zu einer Dysphorie kommen kann, wie
sich die Person selbst erlebt: als Mann, als Frau oder dazwischen. Die
Irritation der Geschlechtsidentität kann sowohl durch biologische Faktoren, die
bisher nur wenig bekannt sind, etwa genetische, hormonelle Prozesse, durch
Erfahrungen im Umgang mit dem Körper, durch Selbst- und Fremdkategorisierungen
und entwicklungsbedingte Konflikte, vor allem aber durch Beziehungserfahrungen
beeinflusst werden.
Körperbild und Beziehungserfahrungen
Für die Sexualentwicklung ist die Entstehung eines
angemessenen Körperbildes, von körperlichen Selbstrepräsentanzen von größter
Bedeutung. Annelise Heigl-Evers hat in diesem Zusammenhang den Begriff des
„Körpers als Bedeutungslandschaft“ geprägt. In den ersten Lebensjahren geht
es um die Inbesitznahme der eigenen Körperlichkeit, den Entwurf einer
Topografie lustvoller Erfahrungen. Lange bevor ein Kind Ängste um seinen
eigenen Körper, seine eigenen Genitalien entwickelt, wird es mit Ängsten der
Eltern um seinen Körper und um seine Genitalien konfrontiert. Gerade diese
frühen Erfahrungen können bei Kindern mit nichteindeutigem Genitale
beeinträchtigt und gestört werden, vor allem dann, wenn die Ablehnung des
kindlichen Genitales zur Ablehnung des Kindes als Ganzes führt. „Meine Eltern
schämten sich für mich; sie befürchteten sozialen Abstieg, Hohn, Spott, wenn
die Verwandten beziehungsweise Nachbarn erfahren würden, dass ich irgendwie
anders bin. Die Familie als Ganzes war wichtiger als ich, darum wurde Alles um
mich totgeschwiegen.“ Für ein Kind, das nicht begehrt wird, ist es kaum
möglich, eigenes Begehren zu entwickeln, vor allem aber ist es nach ablehnenden
Erfahrungen schwierig, sich vorzustellen, von anderen begehrt zu werden, was
wiederum zu einer Verunsicherung in der Identitätsentwicklung führen kann: „Was
ist an mir falsch, dass ich nicht begehrt, nicht geliebt werde?“
Die Beobachtung eines nichteindeutigen Genitales mag zu
einer Konfrontation mit der eigenen Männlichkeit oder Weiblichkeit bei den
Eltern und Behandlern führen. Dabei muss bedacht werden, dass nicht das Kind
zunächst unter dem auffälligen Genitale leidet, sondern die Eltern und Ärzte.
Die Forderung, Eindeutigkeit müsse hergestellt werden, entsteht in ängstlicher
Identifikation mit dem Kind, gehänselt, stigmatisiert, aber auch nicht begehrt
zu werden. Der Wunsch nach Beseitigung der Nichteindeutigkeit ist zwar
verständlich, darf aber die zukünftige Entwicklung des Kindes nicht außer Acht
lassen. In vielen Fällen gelingt es nicht, durch chirurgische Eingriffe an
einem intersexuellen Kind eine eindeutige Geschlechtsidentität herzustellen.
In keiner Lebensphase findet eine so ausgedehnte
Stimulierung des gesamten kindlichen Körpers statt wie in den ersten
Lebensmonaten. Über- und Unterstimulierungen dürften dabei weitreichende
Konsequenzen für die Bildung der oben erwähnten körperlichen Topographie haben.
Wolfgang Mertens schreibt in diesem Zusammenhang, dass „das körperliche
Handlungsgedächtnis, in dem die sensorischen und affektiven Erfahrungen
gespeichert werden, im ersten Lebensjahr besonders wichtig“ ist. Während für
die meisten Eltern die Maßnahmen der Körperpflege, aber auch die kommunikativen
Interaktionen mit dem Kleinkind neben anfänglichen Unsicherheiten keine
Probleme bereiten, zeigen Eltern eines Kindes mit nicht eindeutigem Genitale
oft große Unsicherheiten. Die Frage, was für das Kind förderlich oder
schädigend ist, spielt hier bewusst und unbewusst im Umgang mit dem Kind eine
wichtige Rolle. Die ablehnende Berührung der Eltern kann zur Ablehnung des
eigenen Körpers durch das Kind führen.
Ein zentrales Thema in der psychoanalytischen
Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Geschlechtsidentität ist die Frage
der Beziehungsgestaltung. Bereits in der Kindheit wird die Grundlage gelegt,
welche Beziehungen im Laufe des Lebens gelebt werden können. Sowohl die Psychoanalyse
wie auch die Bindungstheorie nehmen an, dass frühe Beziehungserfahrungen
wichtig sind für das Geschlechtsidentitätserleben. Supportives, responsives
Verhalten und präsente Bezugspersonen in der Kindheit sind Grundlage für ein
selbstsicheres Identitätserleben. Gerade bei Auftreten von Unsicherheiten
bezüglich des Geschlechts erlaubt das Vorhandensein von „Bindungspersonen“, die
auf das Kind empathisch reagieren, dem Kind nicht nur ein sicheres
Bindungssystem zu entwickeln, sondern auch eine stabile Identität. Die
unmittelbare Reaktion der Eltern auf die Geburt (nicht nur) eines
intersexuellen Kindes prägt die Atmosphäre, in der sich die
Eltern-Kind-Beziehung entwickeln wird. Die Geburt eines Kindes mit
nichteindeutigem Geschlecht führt in jedem Fall zunächst zu einer
Verunsicherung.
Können Eltern ihr Kind aufgrund seiner Intersexualität nicht
annehmen, werden sie dem Kind die notwendige Zuwendung verweigern. Daraus kann
sich beim Kind eine Angst, nicht versorgt zu werden, entwickeln, die sich auf
eine Angst, verlassen zu werden, ausdehnen kann. Gerade solche Ängste können zu
unterschiedlichen Verhaltensweisen führen, wie beispielsweise andere
kontrollieren zu wollen, Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf sich zu lenken
oder, was noch viel häufiger der Fall ist, zu einem depressiven Rückzug. Die
Angst, abgelehnt zu werden, kann auch zu einer Anpassung hinsichtlich des
Geschlechtsrollenverhaltens führen, das nicht dem inneren Erleben der Identität
entspricht.
Probleme der Identifikation bei Intersexualität
In der Psychoanalytischen Entwicklungstheorie spielt die
Identifikation und Desidentifikation mit dem gleich- beziehungsweise
gegengeschlechtlichen Elternteil eine entscheidende Rolle. Ein Kind mit
nichteindeutigem Geschlecht wird in der ödipalen Phase Irritationen ausgesetzt
sein, die ein Kind mit eindeutigem Geschlecht nicht kennt. Für ein Kind, dessen
Eltern in ihrer eigenen Person männliche und weibliche Anteile zulassen können,
wird es leichter sein, sich mit dem Vater beziehungsweise der Mutter zu identifizieren,
ohne zu sehr auf Abweichungen aufmerksam zu werden. Andererseits muss man davon
ausgehen, dass das Erleben der Andersartigkeit schon früh zu einer Vereinsamung
führen kann, vor allem wenn die Forderung erhoben wird, über die besondere
Situation des Kindes nicht sprechen zu dürfen. Während man früher gehofft
hatte, Kindern mit Intersexualität die Entwicklung zu erleichtern, indem man
sie möglichst strikt in einer Geschlechtsrolle erzieht, haben die Erfahrungen
der vergangenen Jahre gezeigt, dass ein toleranter Umgang mit nicht
geschlechtsspezifischen Interessen und Verhaltensweisen zu einer stabileren
Entwicklung des Selbst führen kann und dann die so oft befürchtete
Stigmatisierung als weniger traumatisierend erlebt wird.
Wenig Beachtung wurde bisher den spezifischen Problemen von
Jugendlichen mit intersexueller Symptomatik geschenkt. Viele starke Ängste, die
bei den meisten Jugendlichen zum Zeitpunkt der Pubertät auftreten, erhalten bei
Jugendlichen mit Intersexualität reale Bedeutung (beispielsweise die Angst,
keine Menstruation zu bekommen, der Penis könnte nicht wachsen, Brüste könnten
wachsen). Alle diese möglichen körperlichen Veränderungen können ganz
spezifische Konflikte in der Entwicklung des Selbst hervorrufen. Die Hoffnung,
diese durch medizinische Maßnahmen beseitigen zu können, muss in vielen Fällen
als gescheitert angesehen werden. 19 Ein bewusster und offener Umgang mit der
spezifischen Situation und die Akzeptanz des Kindes in seiner Besonderheit
könnten die Grundlage für eine möglichst ungestörte Entwicklung darstellen.
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