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Rothenbächer 2012
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Leben im
falschen Körper
Transsexualität im Kindes- und
Jugendalter
Immer häufiger berichten Medien über transsexuelle Kinder
und Jugendliche, die sich im falschen Körper fühlen. In unsere Sprechstunde
kommen durch das gestiegene Bewusstsein für Störungen in der
Geschlechtsidentität (GIS) immer mehr Kinder- und Jugendliche zur Beratung. In
Deutschland wurde 1981 das Transsexuellen gesetz (TSG) verabschiedet, inzwischen
mehrfach modifiziert; und auch hierzulande wurden Empfehlungen im Sinne einer
diagnostischen und therapeutischen Richtlinie erstellt. So wird in den nicht
bindenden Leitlinien der sexual medizinischen und psychiatrischen
Fachgesellschaften als Altersgrenze das 18. Lebensjahr erwähnt, vor dem
operative genitalkorrigierende Eingriffe nicht empfohlen werden. Eine
Überarbeitung der Empfehlungen aufgrund der Verschiebung von Diagnostik und
Therapie in das erste und zweite Lebensjahrzehnt ist aus unserer Sicht
notwendig.
Immer mehr Jugendliche erkennen und bekennen sich aufgrund
von Vorbildern in der Öffentlichkeit zu ihrer Transsexualität. Eines dieser
Vorbilder ist beispielsweise der 1980 geborene Stabhochspringer Balian
Buschbaum, der bis 2007 noch Yvonne hieß. Der durch zahlreiche Fernsehauftritte
bekannte Sportler schreibt auf seiner Internetseite: „Meine persönlichen Fragen
über mein seelisches Ungleichgewicht, konnte ich Ende 2007 beantworten. Ich
befreite mich aus den Ketten meines Körpers und begann zu fliegen.“ Störungen
der Geschlechtsidentität sind durch ein anhaltendes und starkes Unbehagen und
Leiden am eigenen biologischen Geschlecht charakterisiert. Sie gehen einher mit
dem Wunsch der Beteuerung, dem anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend
leben zu wollen. Kinder leben dabei ihr empfundenes Geschlecht zunächst
unbewusst. Jungen, die sich als Mädchen fühlen, fallen in der Regel früher auf:
Dass ein Mädchen mit kurzen Haaren und Jeans in die Schule geht und mit den
Jungen Fußball spielt, wird akzeptiert. Dass ein Junge mit Strumpfhose und Rock
die Schule besucht und auf die Mädchentoilette gehen möchte, wird nicht
gewünscht.
GIS können bis zum Wunsch nach einer gegengeschlechtlichen
Hormonbehandlung und operativen Geschlechtsumwandlung führen. Die
diagnostischen Hauptkriterien sind erstens der dringliche und anhaltende
Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, und zweitens das andauernde
Unbehagen über das eigene Geschlecht. Liegt lediglich ein Unbehagen über das
eigene biologische Geschlecht ohne dem Wunsch nach einer möglichst weitgehenden
Geschlechtsumwandlung vor, so ist die Diagnose GIS nicht zu stellen. Auch bei
der differenzialdiagnostisch in erster Linie abzugrenzenden ichdystonen
Sexualorientierung wird nicht der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung geäußert.
Typischerweise berichten diese Patienten über Zufriedenheit mit dem eigenen
biologischen Geschlecht oder gar Ängste davor, ihre Geschlechtsmerkmale
aufgeben zu müssen.
Klassifikation
In der in Deutschland üblicherweise verwandten
internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO (ICD-10) wird
keine befriedigende Regelung getroffen. Es wird hier differenziert zwischen der
Diagnose „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ (ICD-10: F64.2)
und – nach der Pubertät – der Diagnose „Transsexualismus“ (ICD-10: F64.0).
Diese Differenzierung wurde unter der Annahme getroffen, dass sich nicht
notwendigerweise Störungen der Geschlechtsidentität des Kindesalters in
Richtung Transsexualismus fortentwickeln. Probleme bestehen bei adoleszenten
Patienten, bei denen auch nach der Pubertät oftmals noch nicht mit Sicherheit
die Diagnose Transsexualismus gestellt werden kann. Es bleibt dann die
unbefriedigende Lösung, die Diagnose „andere Störung der Geschlechtsidentität“
(ICD-10: F64.8) oder „nicht näher bezeichnete Störung der Geschlechtsidentität“
(ICD-10: F64.9) zu stellen. Eine befriedigendere Klassifikation wurde im
amerikanischen diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-IV)
gefunden. Es wird differenziert zwischen den Diagnosen
„Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindesalter“ (302.6) und
„Geschlechtsidentitätsstörungen in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter“
(302.85). Es wird hierdurch die vorzeitige Festlegung auf den Begriff
Transsexualismus vermieden, der nach allgemeinem Verständnis die Annahme
beinhaltet, dass die betroffenen Patienten in jedem Fall eine
Geschlechtsumwandlung anstreben.
Diagnostik
Geschlechtsidentitätsstörung & Differenzialdiagnose
Eine GIS muss differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden von
- Schizophrene
und wahnhaften Störungen,
- intersexuellen
Störungen,
- sexuellen
Reifungskrisen und
- ichdystoner
Sexualorientierung.
Für eine verlässliche Diagnosestellung bei betroffenen
Kindern und Jugendlichen ist ein detailliertes Elterninterview von größter
Wichtigkeit. Erfragt werden sollte das erstmalige Auftreten geschlechts
atypischer Wünsche und Interessen. Bei typischen transsexuellen Entwicklungen
sind diese bis in das früheste Kindesalter zurückzuverfolgen, ohne dass jemals
eine Phase geschlechtstypischen Verhaltens beobachtbar war. Es führt allerdings
der hohe soziale Druck, dem betroffene Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind,
nicht selten dazu, dass sich die Betroffenen äußerlich angepasst verhalten. Aus
diesem Grund wird die Mehrzahl der Patienten mit Entstehen eines hohen
Leidensdrucks nach Einsetzen der Pubertät vorgestellt.
Um zu differenzieren, ob es sich bei vermutetem angepasst
geschlechtstypischen Verhalten nur um eine äußere Anpassung handelt, sollte
eingehend nach bevorzugten Spielen und Spielzeugen gefragt werden.
Typischerweise werden bei äußerlich angepasstem Auftreten jene des
Gegengeschlechts bevorzugt: bei Jungen das Spiel mit Puppen, bei Mädchen
Raufspiele und Fußball. Erfragt werden sollte auch ein cross dressing, das
Tragen von Kleidung des Gegengeschlechts. Jungen bevorzugen schon in der frühen
Kindheit Röcke und Kleider, die oftmals durch Tücher, Schals und ähnliches
imitiert werden. Auch imitieren Jungen häufig langes Haar und äußern den
Wunsch, das eigene Haar lang tragen zu wollen. Bevorzugt werden
Spielaktivitäten wie Tanzen und Ballett, besonderes Interesse besteht außerdem
an Schmuck und Kosmetik sowie typischen Mädchenfarben wie pink und violett.
Spielkameraden sind vor allem Mädchen. Auf der anderen Seite lehnen betroffene
Mädchen strikt Mädchenkleider ab. Sie wünschen, nur Jungensachen zu tragen; bei
fortschreitendem Alter einschließlich des Tragens männlicher Unterwäsche
(Boxershorts). Spielkameraden sind typischerweise Jungen. Mit Eintritt in die
Pubertät ist bei beiden Geschlechtern die massive Ablehnung der primären und
sekundären Geschlechtsmerkmale typisch. Mädchen versuchen ihre Brüste durch
Abbinden zu verbergen, männliche Patienten legen großen Wert auf das Verbergen
primärer Geschlechtsmerkmale beispielsweise durch eng sitzende Unterwäsche.
Typischerweise meiden beide Geschlechter, schwimmen zu gehen oder die Teilnahme
am schulischen Sportunterricht.
Untersuchung jugendlicher Patienten
Aspekte beim Elterninterview:
- Zeitpunkt
erster geschlechtsatypischer Interessen, Phasen geschlechtstypischen
Verhaltens
- Vornamen
- Interesse
an Kleidung, Schmuck, Kosmetik des anderen Geschlechts
- cross
dressing
- Spiele/Spielzeuge
(Puppen!)
- Sport
und körperliche Kampfspiele (Fußball!)
- Tanzen,
Singen, Ballett
- Körpererleben,
Umgang mit Geschlechtsmerkmalen
(Brüste, Genitalien) - Freunde
und Spielkameraden (Geschlecht)
Jugendliche Patienten treten oftmals in der Öffentlichkeit
schon als Person des gewünschten Geschlechts auf und führen einen Vornamen des
gewünschten Geschlechts. Typischerweise äußern jugendliche Patienten zudem
verstärkt den Wunsch nach medizinischen geschlechtskorrigierenden Maßnahmen wie
Hormonbehandlung oder Mastektomie. Durch Informationen aus dem Internet sind
heute jugendliche Patienten durchaus über ihr Problem informiert: Insbesondere
von Jungen, die zum Beispiel ihren Penis abschneiden möchten, wird der Wunsch
nach einer Geschlechtsumwandlung auch schon im Kindesalter geäußert. Auf das
individuelle Körpererleben ist daher in der Einzeluntersuchung in besonderem
Maße einzugehen. Jugendliche Patienten lehnen zum Beispiel typischerweise
intime Kontakte zu Partnern ab, bei denen die Gefahr besteht, dass ihr negativ
besetzter Körper berührt wird. Von männlichen Patienten wird oftmals jeglicher
intimer Kontakt abgelehnt, weibliche Patienten berichten häufiger über intime
Kontakte zu Partnerinnen. Der eigene Körper darf in der Regel aber hierbei
nicht von den Partnerinnen berührt werden.
Testpsychologie und Fragebögen
Ein detailliertes Interview von Eltern und Patienten erfasst
in der Regel die diagnostisch bedeutsamen Punkte. Es existieren Fragebögen, die
systematisch die genannten Punkte erfragen, insbesondere der von einer
holländischen Arbeitsgruppe entwickelte Utrechter gender identity questionnaire
(Cohen-Kettenis et al. 2006). Für den deutschen Sprachraum werden gegenwärtig
ein Interessen- sowie Eigenschaftswahlverfahren für
geschlechtsidentitätsgestörte Patienten entwickelt, die regelmäßig bei den in
der Frankfurter Universitätsklinik vorgestellten geschlechtsidentitätsgestörten
Kindern und Jugendlichen angewandt werden.
Ein weiteres einfaches Verfahren ist die Menschzeichnung. So
fertigen Patienten mit GIS typischerweise als erstes die einer Person des
gewünschten Geschlechts an, während sonst in der Regel eine Person des eigenen
Geschlechts als erste Zeichnung angefertigt wird (vgl. Zucker u. Bradley 1995).
Frankfurter GIS-Sprechstunde
In der Frankfurter Universitätsklinik für Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters wurde 1987 eine
Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche mit GIS eingerichtet. Patienten
und Eltern werden in dieser Sprechstunde eingehend untersucht und beraten sowie
– falls je nach Entfernung möglich – auch psychotherapeutisch behandelt. In
größerer Entfernung lebende Patienten werden in der Regel wohnortnah
psychotherapeutisch behandelt und bei anstehenden Entscheidungen wie
Hormontherapie, operativen Schritten, Vornamens- und Personenstandsänderung in
größeren Abständen zum Zwecke von Gutachtenerstellungen und Beratungen den
Therapeuten am Heimatort vorgestellt.
Tab. 1: Frankfurter Spezialsprechstunde für
Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter:
Patientenvorstellungen von 1987 bis 2010
|
||||
atypische GIS
|
typische GIS
|
|||
weiblich
|
männlich
|
weiblich
|
männlich
|
|
Kinder, 4 - 12 Jahre (n)
|
8
|
19
|
4
|
18
|
Jugendliche, 13 - 18 Jahre (n)
|
23
|
13
|
57
|
45
|
Gesamt (n)
|
63
|
124
|
||
GIS = Geschlechtsidentitätsstörung; Aufteilung nach
biologischem Geschlecht
|
Die Übersicht in Tab. 1 zeigt, dass bei uns von 1987 bis
2010 insgesamt 187 Patienten mit geschlechtsatypischem Verhalten und Wünschen
vorgestellt wurden. 124 dieser Patienten erfüllten beide diagnostischen
Hauptkriterien. Die Anzahl adoleszenter Patienten (102) überwiegt deutlich die
Anzahl von Patienten im Kindesalter (22). Interessant ist, dass im Kindesalter
männliche Patienten überwogen (18:4), während sich dieses Verhältnis im
Jugendalter umkehrte und mehr biologisch weibliche Patienten vorgesellt wurden
(57:45). Als Erklärung hierfür leuchtet am ehesten ein, dass sich
geschlechtsatypisch verhaltende männliche Patienten im Kindesalter deutlich
auffälliger sind als sich jungenhaft verhaltende Mädchen. Daher wird bei Jungen
früher eine Therapie aufgesucht. Das Geschlechtsverhältnis insgesamt ist
ausgeglichen, was auch dem Geschlechtsverhältnis bei erwachsenen transsexuellen
Patienten entspricht (Garrels et al., 2000).
Psychotherapie mit offenem Ziel
Das therapeutische Vorgehen bei GIS ist in den Leitlinien zu
Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und
Jugendalter der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften (2007)
festgelegt. Der erste Schritt ist der einer mindestens einjährigen
Psychotherapie, bevor weitere Schritte erwogen werden können. Eine
psychotherapeutische Behandlung sollte mit offenem Ziel durchgeführt werden.
Sinn der Psychotherapie ist es nicht, geschlechtsatypisches Verhalten und
entsprechende Wünsche beseitigen zu wollen, aber doch die Möglichkeit offen zu
halten, zu explorieren, ob ein Leben im biologischen Geschlechtskörper nicht
doch möglich ist.
Erste Ergebnisse einer in der Frankfurter
Spezialsprechstunde durchgeführten katamnestischen Untersuchung zeigen, dass
zwar keine Unterschiede im outcome zwischen höher- und niederfrequenter
Therapie bestehen, es aber von primärer Wichtigkeit ist, dass Betroffene
ausreichend lange auf ihrem Weg begleitet werden und so sichergestellt werden
kann, dass der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung konsistent – und nicht nur
situationsabhängig – besteht. Es wurden Patienten behandelt, die in
Krisensituationen längerdauernd den Wunsch nach Geschlechtsumwandlung geäußert
hatten, diesen Wunsch dann aber im Therapieverlauf aufgegeben haben. Die Art
psychotherapeutischer Behandlung ist dabei ohne Einfluss auf das Ergebnis:
Patienten wurden sowohl kognitiv behavioral als auch auf tiefenpsychologischer
Basis behandelt. Vorliegende Therapieberichte belegen, dass eine Therapie vor
allem bei Kindern häufiger zum Aufgeben des Wunsches nach Geschlechtswechsel
führt. Bei erwachsenen transsexuellen Patienten sind keine Fälle bekannt, in
denen eine Psychotherapie dieses Ergebnis hatte (Meyenburg 2007)
.
Ist die gewünschte Rolle stimmig?
Gefordert wird als weiterer wesentlicher Therapieschritt ein
Alltagstest: Die Patienten sollen dabei vor Einleitung körperverändernder
Maßnahmen, zu denen auch eine Hormonbehandlung zählt, über mindestens ein Jahr
weitestgehend als Person des gewünschten Geschlechts leben. Diese Überprüfung,
ob die Rolle des gewünschten Geschlechts tatsächlich zutreffend ist, erfordert
vor allem bei Patienten im Jugendalter, dass mit Lehrern und Ausbildern
entsprechende Gespräche vorab geführt werden. Erstaunlicherweise zeigt dann die
Erfahrung, dass Betroffenen in der Mehrzahl großes Verständnis entgegengebracht
wird, übrigens auch seitens ihrer Mitschüler. Diese sind wie das gesamte Umfeld
in der Regel eher erleichtert, eine Erklärung für das bisher auffallend
geschlechtsatypische Verhalten zu haben. Hilfe und Beratung bei einer
Vornamensänderung sind in der Zeit des Alltagstests als begleitender
Therapieschritt möglich.
Möglichkeiten der Hormonbehandlung
Vor Beginn einer gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung ist
eine pubertätshemmende Behandlung mit GnRH-Analoga und/oder Antiandrogenen
durchführbar (in der Regel ab dem 14. Lebensjahr). Diese zuerst von der
holländischen Arbeitsgruppe um Cohen-Kettenis in den 1990er-Jahren eingeführte
Behandlungsmethode bietet den Vorteil, dass die oftmals als extrem belastend
erlebten pubertären Veränderungen nicht eintreten. Bei männlichen Patienten
gefürchtet sind insbesondere Stimmbruch und Bartwuchs, bei weiblichen Patienten
Brustentwicklung und Menstruation. Keinesfalls sollten pubertätshemmende
Hormone allerdings prophylaktisch vor Eintreten pubertärer Veränderungen
verabreicht werden. Die Reaktionen auf die beginnenden pubertären Veränderungen
sind ein wichtiges Diagnostikum und liefern zusätzliche Klarheit bei der
Entscheidung für oder gegen eine Geschlechtsumwandlung. Empfohlen wird der
Beginn einer pubertätshemmenden Behandlung nach Tanner-Stadium II. Die
Behandlung sollte von erfahrenen Endokrinologen durchgeführt werden. Stellt
sich ein Jugendlicher mit unab- oder abgeschlossener Pubertätsentwicklung in
der „Findungsphase“ vor, kann eine Unterbrechung der endogenen
Pubertätsentwicklung sofort erfolgen.
Dies hilft dem Betroffenen bei noch unvollständiger Pubertät
vor möglichen irreversiblen Veränderungen. Durch die Behandlung mit
GnRH-Analoga (zum Beispiel Enantone® oder Decapetyl® 3,75 mg alle 3–4 Wochen
s.c.) kann die notwendige Zeit gewonnen werden, die Diagnose zu sichern. Dieses
Vorgehen entspricht den publizierten Empfehlungen anderer Behandler und
orientiert sich nicht an den in Kürze zur Veröffentlichung freigegebenen Empfehlungen
der nordamerikanischen Endocrine Society, die eine Suppression der Pubertät ab
einer Genitalentwicklung von Tanner-Stadium II bis III empfi ehlt und
gegengeschlechtliche Hormone ab 16 Jahren für indiziert hält.
Die Zeitdauer einer pubertätshemmenden Behandlung ist
zeitlich nicht klar begrenzt. Zu berücksichtigen ist, dass es bei
unabgeschlossenem Wachstum durch den vorübergehenden Verlust der Sexualhormone
zu einem Rückgang der Wachstumsgeschwindigkeit bis zu einem Wachstumsstillstand
kommen kann. Nach der Entscheidung für die Behandlung mit gegengeschlechtlichen
Hormonen wird die Behandlung mit dem GnRH-Analgon parallel bis zur operativen
Entfernung der Keimdrüsen fortgesetzt. Beim Einsatz der gegengeschlechtlichen
Hormone ist die Wirkung auf die Wachstumsfugen zu beachten. Über die Spätfolgen
der gegengeschlechtlichen Therapie gibt es noch keine zuverlässigen Daten. Aus
diesem Grund ist eine Langzeitdokumentation mit Kontrollen der hormonalen
Parameter, klinischen Chemie, des Blutbildes, der Knochendichte sowie
klinischer Probleme notwendig.
Operative Schritte und Rechtsfragen
Die für chirurgische Schritte bekannte Altersgrenze von 18
Jahren wird bei klaren transsexuellen Entwicklungen heute durchaus
unterschritten. Die jüngsten operativ behandelten Patienten in Deutschland
standen kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Der erste Schritt ist bei biologisch
weiblichen Patienten die Mastektomie. Bei biologisch männlichen Patienten ist
es die Entfernung des Penis und Schaffung einer Neovagina. Die Kosten für genitalkorrigierende
Eingriffe werden in aller Regel von den Krankenkassen getragen, in der Regel
nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes: Es werden zwei unabhängige
Gutachten sowie der Nachweis verlangt, dass die vorbereitenden Therapieschritte
(Psychotherapie, Alltagstest) eingehalten worden sind. Eine Namens- und
Personenstandsänderung ist nach dem TSG prinzipiell ohne Altersbegrenzung
möglich. Der jüngste bekannt gewordene Fall war ein Junge im Alter von neun
Jahren in Schleswig-Holstein.
Fazit für die Praxis
Nach neuerer Rechtsprechung durch das
Bundesverfassungsgericht ist es jetzt auch ohne operative genitalkorrigierende
Schritte möglich, den Personenstand zu wechseln. Das Bundesverfassungsgericht
hat kürzlich entschieden, dass betroffene Patienten nicht zu operativen
genitalkorrigierenden Eingriffen gezwungen werden könnten, entscheidend sei das
erlebte psychische Geschlecht (vgl. „Voraussetzungen für die rechtliche
Anerkennung von Transsexuellen nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 Transsexuellengesetz
verfassungswidrig“, Az. 1 BvR 3295/07, Beschluss vom 11. Januar 2011). Eine
Regelung durch den Gesetzgeber steht hierzu gegenwärtig allerdings noch aus.
Korrespondenzadressen:
Dr. med. Bernd Meyenburg
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Deutschordenstr. 50, 60528 Frankfurt am Main
Tel.: 069/63 01 59 20, Fax: 069/63 01 58 43
E-Mail: bernd.meyenburg@kgu.de
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Deutschordenstr. 50, 60528 Frankfurt am Main
Tel.: 069/63 01 59 20, Fax: 069/63 01 58 43
E-Mail: bernd.meyenburg@kgu.de
PD Dr. med. Annette Richter-Unruh
Endokrinologikum Ruhr
Alter Markt 4, 44866 Bochum
Tel.: 02327/96 42 78, Fax: 02327/96 42 99
E-Mail: annette.richterunruh@endokrinologikum.com
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