Freitag, 12. Oktober 2012

Konstruktion von Wirklichkeit


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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012

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Konstruktion von Wirklichkeit

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Na, das weiß doch jedes Kind! Alles, was wir anfassen, riechen, schmecken können, das ist wirklich. Oder?

Unsere Wahrnehmung kann sich täuschen. Wer sich mit den Gesetzen der Wahrnehmung und mit Fehlern derselben beschäftigt, der ahnt, dass es so einfach mit der Wirklichkeit nicht ist. „Die Wahrnehmung vermittelt keine objektive Wirklichkeit, sondern eine subjektive Welt; wir nehmen das wahr, was unseren Bedürfnissen, Erfahrungen, Erwartungen entspricht  und  nicht  die  objektiv  gegebenen  Reize.“

Soziale  und  individuelle  Faktoren bestimmen und verändern unsere Wahrnehmung und damit unsere „Wirklichkeit“.

Um  das  Problem  mit  der  Wirklichkeit  unserer  Wirklichkeit  anschaulich  zu  machen, möchte ich die Aufmerksamkeit auf einen alltäglichen Gegenstand lenken: den Tisch.

„Dem Auge erscheint er viereckig, braun und glänzend, dem Tastsinn glatt und kühl und hart; wenn ich auf ihn klopfe, klingt es nach Holz. Jedermann, der den Tisch sieht, befühlt und beklopft, wird einer Beschreibung zustimmen, so dass es auf den ersten Blick aussieht, als ob es gar keine Schwierigkeiten gäbe. Sie fangen erst an, wenn wir genauer zu sein versuchen: Obwohl ich glaube, dass der Tisch 'in Wirklichkeit' überall die gleiche Farbe hat, sehen die Stellen, die das Licht reflektieren, viel heller aus als die übrigen, einige Stellen erscheinen infolge des reflektierten Lichts sogar weiß. Ich weiß, dass andere Stellen das Licht reflektieren werden, wenn ich mich bewege; die scheinbare Verteilung der Farben auf dem Tisch wird sich bei jeder Bewegung, die ich mache, verändern.

Es folgt, dass, wenn mehrere Leute den Tisch gleichzeitig betrachten, keine zwei genau dieselbe Farbverteilung sehen werden, weil ihn keine zwei von genau demselben Punkt aus betrachten können, und weil jede Veränderung des Blickpunkts auch eine Verschiebung der reflektierenden Stellen mit sich bringt. (…)
Wir haben festgestellt, dass es keine Farbe gibt, die vor allen anderen als die Farbe des Tisches oder auch nur eines bestimmten Teils des Tisches gelten kann - er erscheint von verschiedenen Blickpunkten aus in verschiedenen Farben, und es gibt keinen Grund, eine dieser Farben mehr für 'seine' Farbe zu halten als die übrigen.

 Wir wissen außerdem, dass selbst von einem vorgegebenen Blickpunkt aus die Farbe bei künstlichem Licht anders erscheinen wird als bei natürlichem; einem Farbenblinden oder jemandem, der eine blaue Brille trägt, wird sie anders erscheinen als uns, und im Dunkeln wird überhaupt keine Farbe erscheinen, obwohl der Tisch für Gehör und Tastsinn unverändert bleibt. Diese Farbe ist also nicht etwas dem Tisch Innewohnendes, sondern etwas, das vom Tisch und dem Betrachter und der Beleuchtung abhängig ist.

Wenn wir unreflektiert von der Farbe des Tisches sprechen, meinen wir nur die Farbe, die einem normalen Beobachter von einem normalen Blickpunkt aus bei normaler Beleuchtung erscheinen wird.
Aber die anderen Farben, die unter anderen Verhältnissen erscheinen, haben ein ebenso gutes Recht, für 'wirklich' genommen zu werden, und deshalb müssen wir - um den Verdacht der Begünstigung zu vermeiden - leugnen, dass der Tisch, für sich genommen, irgendeine bestimmte Farbe habe.

Dasselbe gilt für die Struktur der Oberfläche. Mit dem bloßen Auge kann man sehen, wie die Fasern des Holzes verlaufen, aber im Übrigen sieht der Tisch glatt und eben aus. Wenn wir ihn durch ein Mikroskop betrachteten, dann würden wir Unebenheiten bemerken, Erhöhungen und Vertiefungen und allerlei Unterschiede, die für das bloße Auge unsichtbar sind.
Wann sehen wir den 'wirklichen' Tisch? Wir sind geneigt zu sagen, dass das, was wir durchs Mikroskop sehen, 'wirklicher' ist, aber auch das würde sich wieder ändern, sobald wir ein stärkeres Mikroskop benutzen. Wenn wir dem, was wir mit bloßem Auge sehen, nicht trauen dürfen, warum sollten wir dem trauen, was wir durchs Mikroskop sehen? So verlieren wir wiederum das Vertrauen in unsere Sinne, von dem wir ausgegangen sind.

Mit der Gestalt des Tisches steht es nicht besser. Wir haben alle die Gewohnheit, Urteile über die 'wirkliche' Gestalt von Dingen abzugeben, und wir tun das so gedankenlos, dass wir uns einbilden, wir sähen tatsächlich die wirklichen Gestalten. Aber wenn wir versuchen, etwas zu zeichnen, müssen wir alle lernen, dass ein bestimmter Gegenstand von jedem Blickpunkt aus eine andere Gestalt hat.

Wenn unser Tisch 'in Wirklichkeit' rechtwinklig ist, wird es von fast allen Blickpunkten aus so erscheinen, als ob seine Platte zwei spitze und zwei stumpfe Winkel hätte.

Wenn gegenüberliegende Seiten parallel sind, werden sie anscheinend in einem Punkt in der dem Betrachter entgegengesetzten Richtung zusammenlaufen; wenn sie gleich lang sind, wird es so aussehen, als ob die nähere Seite länger wäre. (...) Diese 'wirkliche' Gestalt ist jedoch nicht das, was wir sehen; sie ist etwas, das von uns aus dem Gesehenen erschlossen worden ist. Und was wir sehen, verändert dauernd seine Gestalt, während wir uns durch den Raum bewegen, so dass uns unsere Sinne auch in diesem Falle offenbar nicht die Wahrheit über den Tisch selbst, sondern nur über seine Erscheinung sagen.

Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich für den Tastsinn. Zwar haben wir immer eine Empfindung von der Härte des Tisches, und wir fühlen, wie er unserem Druck widersteht. Aber was wir im Einzelnen für eine Empfindung haben, hängt davon ab, wie stark wir auf den Tisch drücken, und mit welchem Teil unseres Körpers wir das tun; daher können w wir nicht annehmen, dass die verschiedenen  Empfindungen,  die  durch  verschieden  starken  Druck  in  verschiedenen  Teilen unseres  Körpers  hervor  gerufen  werden,  uns  unmittelbar  eine  bestimmte  Eigenschaft  des Tisches enthüllen; sie sind höchstens Zeichen einer Eigenschaft, die vielleicht all diese Empfindungen verursacht, aber nicht selbst in einer von ihnen erscheint. Und dasselbe gilt ohne Zweifel auch für die Geräusche, die wir hervorrufen können, wenn wir auf den Tisch klopfen.

Es ist daher einleuchtend, dass der 'wirkliche' Tisch - wenn es ihn gibt - nicht der ist, den wir durch unseren Gesichts- oder Tastsinn oder durch das Gehör unmittelbar wahrnehmen. Der wirkliche Tisch - wenn es einen gibt - ist uns überhaupt nicht unmittelbar bekannt, sondern muss etwas sein, das aus unmittelbar Bekanntem erschlossen worden ist. Wir müssen uns infolgedessen hier gleich zwei schwierige Fragen stellen:

1.       Gibt es überhaupt einen wirklichen Tisch?

2.       Wenn ja, was für eine Art Gegenstand kann das sein?“

Wenn die Erschließung der Wirklichkeit über einen einfachen Tisch schon so kompliziert erscheint, um wie viel tausendmal schwieriger ist es dann, eine Wirklichkeit über Menschen, menschliches Denken und menschliche Interaktionen abzubilden? Wirklichkeit entsteht im Diskurs – durch Sprechen.
Was ist mit dem Unausgesprochenen, mit dem, worüber man nicht spricht, ist das nicht wirklich?
Hier greifen die Axiome von Watzlawick.  Man  kann  nicht, nicht kommunizieren.  Auch  wenn  man  nicht  spricht, „spricht“ man.

Gibt es womöglich mehrere Wirklichkeiten? Oder gibt es Abstufungen von „nur ein bisschen wirklich“ bis „absolut wirklich,  wirklich“? Personen als auch Dinge konstituieren sich in einem sprachlichen Bereich.
Wenn er erst einmal besteht, strukturiert er sinnhaft die  für  das Beobachten-Können  erforderlichen  Unterscheidungen  und bestimmt  die Wahrnehmungs- und Unterscheidungsprozesse.

Wer vielfältigere sprachliche Möglichkeiten der Unterscheidung hat, kann differenzierter beobachten und wahrnehmen.

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“

In diesem Zusammenhang ist auch die Einteilung in Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung von Watzlawick zu erwähnen. Die Wirklichkeit erster Ordnung ist für ihn das „Universum aller Tatsachen’“. Ein Kleinkind kann durchaus ein rotes Licht wahrnehmen, aber es weiß deshalb noch nicht, dass es das Überqueren der Straße verbietet oder ein Bordell bezeichnet. Die Bedeutung des roten Lichtes hat absolut nichts mit der Wellenlänge des Rotlichts zu tun, sie ist vielmehr eine menschliche Konvention, eine Zuschreibung von Bedeutung. Dies nennt er Wirklichkeit 2. Ordnung.

„Im sozialen Leben ist Wirklichkeit das, was Menschen dazu erklären, woran sie gemeinsam glauben und worin sie sich gegenseitig bestärken.“

 Aber auch die Wirklichkeit der Bewusstseinsinhalte kann Täuschung sein. Woher wissen wir, was „real“ und was Traum ist? Im Traum „erleben“ wir auch Dinge, kommunizieren mit Personen, weinen und lachen.

Wer oder was gibt uns Gewissheit, dass wir unser „reales“ Leben nicht nur träumen? Wirklichkeiten und Wahrheiten sind an die Existenz der sie erkennenden Menschen gebunden.

Mit dieser Aussage beschäftigten sich Philosophen seit Menschengedenken.

 Jede Phantasie arbeitet  mit  Erinnerungen,  aber  nicht  immer  steht  an  ihrem  Ursprung  individuelles Erleben. Kuntz-Brunner ist der Meinung, kollektive Menschheitserinnerungen können als Allegorien und Methaphern in ein seelisches Fundament graviert sein, aus dem die Phantasien schöpfen. Er nennt dies „kollektive Urphantasien“. Freud nennt sie „Schema“ und meint damit ein tatsächliches  Erlebnis,  das auf  den Ursprung der  Menschheit zurück geht und nur noch als psychische Realität auftaucht.

 Die dauernde Aufgabe der menschlichen Gattung scheint darin zu bestehen, immer neu festzulegen, wo die Wirklichkeit von den Fakten „äußerer Realität“ bestimmt wird und wo der Bereich der Phantasie, der Träume, des Spiels und der Kunst zu seinem Recht kommen soll.

In Bezug auf das Thema Geschlechtsidentität spielt sicher auch die Frage hinein, ob wir Männer und Frauen sind, oder ob wir uns im Alltag zu Frauen und Männern machen (lassen).

Das, was wir wahrnehmen, sind oft nur die Auswirkungen von etwas.

So nehmen wir z. B. wahr, dass jemand Fieber hat, Fieber als Zustand, der vom Gesunden abweicht. Die Ursachen von Fieber jedoch können ganz verschieden sein. Oft ist es also ein Abweichen vom Normalen, das uns ermöglicht z. B. (Rollen)Klischees und (Rollen)Zwänge wahrzunehmen, ähnlich der Wahrnehmung von Gerüchen, die immer da sind, doch erst, wenn etwas besonders gut oder schlecht, anders als sonst riecht, dann bemerken wir es.

Provokativ könnte man jetzt fragen, bemerkte „Mensch“ erst,dass es Mann und Frau gibt, als er mit Anders-Seiendem konfrontiert wurde? Wie wurde dieses „Andere“ definiert, woran wurde fest gemacht, dass es nicht „gleich“ ist?

Wann wurden Mann und Frau festgeschrieben als „normal“. Wozu dienen den Individuen und der Gesellschaft als Ganzes diese Festschreibungen von Norm?

Was ich nicht kenne, ist für mich nicht existent, kann ich (noch) nicht denken, ist nicht wirklich.

So ging es mir mit dem Thema einer Transidentität, über die klassische Einordnung von Mann und Frau hinaus. 

Außerhalb eines Entweder-Oder verfügte ich nicht über sprachliche Begrifflichkeiten.
Ich konnte ein Weder-Noch einfach nicht denken, es gab auch keine Veranlassung dazu, es gehörte bis vor einem Jahr nicht zum Bereich meiner Wirklichkeit. Watzlawick ist der Ansicht, dass wissenschaftliche, gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeiten konstruiert werden, indem wir an die vermeintlich „objektiv“ bestehende Wirklichkeit immer mit gewissen Grundannahmen herangehen, die wir für bereits feststehende „objektive“ Aspekte der Wirklichkeit halten, obwohl sie nur Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen.

 Nun haben sich die „äußeren Gegebenheiten“ scheinbar nicht verändert – seit einem Jahr. Alle von mir befragten  leben schon viel länger in dieser Wirklichkeit – nur ich habe sie mir erst jetzt konstruiert, als ich mir Wissen darüber angeeignet hatte und etwas erlebte, was meine Wirklichkeit veränderte. Diese „Denk-Anstoß-Splitter“ möchte ich meiner wissenschaftlichen Arbeit voran stellen. Sie bilden den Background, in dem ich meine nun folgenden Darlegungen verstanden wissen möchte.

 „Weder die Wissenschaft noch die naiv-sinnliche Wahrnehmung stellen die Wirklichkeit so dar, wie sie ‚an sich’ ist,sondern ‚erschaffen’ sie jeweils neu (…).“
  

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