Mittwoch, 24. Oktober 2012

«Nicht jeder will eine Operation, im Gegenteil»



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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2012

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«Nicht jeder will eine Operation, im Gegenteil»
Transmenschen haben es heute leichter als früher, dennoch kämpfen viele mit Depressionen, sagt Niklaus Flütsch, Arzt und Leiter einer Sprechstunde für transidente Menschen in Zürich.
Niklaus Flütsch (48) leitet eine Sprechstunde für transidente Menschen im Zürcher Triemlispital. Er ist Gynäkologe, war einige Jahre Oberarzt an der Frauenklinik im Triemlispital und wird am 1. Oktober 2012 seine eigene Praxis in Zug eröffnen. 2010 hat er selbst eine Frau zu Mann Geschlechtsanpassung gemacht.

Niklaus Flütsch, warum wird man «trans»?
Das ist noch immer nicht völlig geklärt. Die Wissenschaft geht davon aus, dass es angeboren ist. Viele haben schon in ganz jungen Jahren das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Möglicherweise spielen mehrere Faktoren rein, Gene und Umwelteinflüsse.

Gibt es Zahlen, wie viele Menschen das Phänomen betrifft?
Es werden ja nur die registriert, die eine Geschlechtsanpassung machen oder in einer Psychotherapie sind, auf der Basis muss man hochrechnen. Bei Mann zu Frau Transmenschen ist es etwa eine Person auf 30'000 bei Frau zu Mann eine von 200'000. Aber die Zahlen sind in letzter Zeit gestiegen, weil mehr es wagen, sich zu outen. Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch.

Warum der starke Unterschied?
Wir vermuten, dass Frau zu Mann Transmenschen sich besser in die Gesellschaft integrieren können – auch ohne Operation oder Hormontherapie. Es ist konformer, als Frau Hosen zu tragen oder kurze Haare zu haben. Das fällt viel weniger auf als wenn ein Mann anfängt, Frauenkleider zu tragen.

Wie verläuft das Coming-out?
Das ist ganz unterschiedlich. Sicherlich ist es heute einfacher, sich zu outen, deshalb tun das auch viele Ältere erst jetzt, obwohl es bei Ihnen schon länger ein Thema ist. In den 80er-Jahren galt Trans noch als psychische Krankheit, als Persönlichkeitsstörung.

Die Älteren sind ja dann oft in Beziehungen – und die dürften eine Geschlechtsanpassung des einen Partners vermutlich nur selten überstehen, oder?
Rund 50 Prozent überstehen sie. Aber es ist verständlich, dass viele Partner das nicht mitmachen, weil sie sich plötzlich zur Homo- oder Heterosexualität gezwungen sehen. Schwierig ist es allerdings in jedem Alter.

Wie merkt man, dass man «trans» ist?
Da ist eine innere Gewissheit, dass man etwas ist, als das man äusserlich nicht wahrgenommen wird. Und das fängt meist als Kind an, wenn einem noch die Worte dafür fehlen. In der Zeit hat man ja noch Narrenfreiheit, die physischen Unterschiede sind auf den ersten Blick nicht offensichtlich, man kann spielen, mit wem man will. Aber eines Tages schaut man genauer hin und realisiert: Man ist anders gebaut als die anderen Jungs. Man wird dann den Mädchen zugteilt, findet aber selbst: Das stimmt doch überhaupt nicht! Stellen Sie sich vor, Sie als Mann wachen eines Morgens auf, sehen in den Spiegel und realisieren, dass Sie einen Frauenkörper haben. So ein Gefühl ist das. Und wenn man dann merkt, dass man daran nicht einfach so was ändern kann, ist das ein ziemlich harter Schlag.

Wie geht man damit um?
Viele kämpfen mit Depressionen, Selbstverletzungen; Drogenmissbrauch oder Selbstmord sind nicht selten. Eine Geschlechtsanpassung ist dann meist sehr heilsam.

Was kann man als Freund oder Familienmitglied tun?
Den Transmensch ernst nehmen und professionelle Hilfe suchen. Die braucht es meistens. Nicht im Sinne einer Therapie sondern als Begleitung, um zu klären, wie es nun weiter gehen soll. Nicht jeder braucht oder will eine Hormontherapie und Operationen, im Gegenteil.

Was gibt es denn für Optionen?
Ich kenne einige, die das körperlich nicht leben können oder wollen – etwa aus beruflichen Gründen oder wegen der Partnerschaft. Dann gibts jene, die sich mittels Hormonen anpassen, aber Operationen ablehnen, aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen. Und dann gibts die, welche alle chirurgischen Möglichkeiten ausschöpfen.

Und wie nahe kommt man damit dem gewünschten Geschlecht?
Sehr nahe, äusserlich. Aber natürlich kann ein Mann zu Frau Transmensch nie Kinder gebären. Und umgekehrt können keine Kinder gezeugt werden.

Wie riskant sind diese Eingriffe?
Es sind plastisch-chirurgische Operationen, und sie werden nur von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Die Eingriffe im Genitalbereich sind schwierig, die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen hoch. Das ist mit ein Grund, dass viele darauf lieber verzichten.

Wo findet man diese Spezialärzte?
Die, die es sich leisten können, gehen ins Ausland. Frau zu Mann Transmenschen zum Beispiel nach Deutschland, die anderen nach Thailand, wo es ausgezeichnete Kliniken gibt.

Wieso gerade Thailand?
Dort ist die Zahl der Mann zu Frau Transmenschen sehr hoch, einer auf 10'000, entsprechend viele Kliniken sind auf diese Eingriffe spezialisiert. Die so genannten Ladyboys sind in Thailand sehr akzeptiert, es gibt sogar Miss-Wahlen.

Viele leben damit, dass ihr Körper letztlich doch nicht ganz dem gefühlten Geschlecht entspricht. Ist das befriedigend genug?
Es ist sicher immer wieder eine Herausforderung. Und es ist psychisch nicht notwendigerweise schwieriger, als sämtliche Operationen zu machen. Danach steigt der Druck vom Umfeld, dass es einem jetzt aber endlich gut gehen muss, schliesslich hat man doch nun alles, was man wollte. Aber natürlich hat man auch dann seine Hochs und Tiefs.

Gibt es auch Transmenschen, die ihre Geschlechtsanpassung nachträglich bereuen? Die plötzlich realisieren: Vielleicht waren meine Gefühle falsch und nicht mein Körper?
Das kommt tatsächlich vor, nicht oft, aber es passiert. Und davor haben gerade die Therapeuten Angst, die Transmenschen begleiten. Ein Grund kann tatsächlich sein, dass man realisiert, dass das innere Empfinden falsch war. Oder die Operation ist nicht so rausgekommen, wie man sich das gewünscht hat: die Narben, der Haarwuchs geht vielleicht nicht so zurück wie erhofft, die Hände sind immer noch zu gross. Der wichtigste Punkt ist aber die mangelnde soziale Akzeptanz. Man hat zwar nun das Wunschgeschlecht, aber viele Freunde verloren, den Partner und möglicherweise gleich auch noch den Job.

Den Job? Das passiert?
Natürlich ist das nie der offizielle Grund, man findet immer etwas, das man vorschieben kann. Und man kann auch nicht davon ausgehen, dass sozial höher gestellte Transmenschen weniger davon betroffen sind. Ich kenne zum Beispiel ein Lastwagenunternehmen, das zwei Transfrauen als Chauffeure weiter beschäftigt, umgekehrt gibt es Transfrauen, die ihren Job als Psychologin verloren haben.

Trans ist heute noch immer so exotisch und vage verrucht wie Homosexualität vor 30 Jahren. Kann man diese Einstellungen verändern so wie das bei Schwulen und Lesben gelungen ist?
Das Bild von Mann und Frau ist tief eingebrannt in der Gesellschaft. Wer sich da nicht eindeutig zuordnen lässt, löst Ängste aus oder zumindest Irritation. Aber es tut sich schon einiges. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlechterfragen hat dazu geführt, dass man mehr und mehr einsieht, dass die pauschale Einteilung in Frau und Mann nicht immer funktioniert. Und irgendwann kommt das hoffentlich auch in der Gesellschaft an.

Ideologische bzw. moralische Gegner der Homosexualität finden sich heute fast nur noch bei den Religiösen. Haben die auch Probleme mit Transmenschen? Oder ist das okay, solange sie in einer Hetero-Beziehung leben?
(lacht) Unser Glück ist, dass das in der Bibel nicht wirklich thematisiert wird. In muslimischen Ländern steht man dem Thema überraschend entspannt gegenüber. Gerade der Iran ist bekannt für seine vielen Geschlechtsanpassungen...

Wie bitte?
Ja, Ayatollah Khomeini hat Geschlechtsanpassungen damals offiziell bewilligt, was wohl daran lag, dass er eine enge Beziehung zu einer Transfrau hatte, die im Klerus verkehrte. Homosexualität hingegen wird mit dem Tod bestraft, deshalb lassen viele Homosexuelle eine Geschlechtsanpassung machen, um mit ihrem Partner trotzdem zusammen leben zu können. Das relativiert den Eindruck von Liberalität natürlich sofort wieder.

Und die Lage in der Schweiz?
In freikirchlichen Kreisen gibt es schon Opposition gegen Transmenschen – davon fühlen wir uns aber nicht so stark bedroht. Heikler sind die Therapeuten, die finden, man könne Transmenschen umpolen, so wie es das früher ja auch bei Schwulen hiess. Und es gibt Chirurgen, die Probleme damit haben, wenn nur ein Teil der Operationen durchgeführt wird und dadurch quasi ein Mischwesen steht. Ein Mann in einem Frauenkörper, der nur halb angepasst wird, könnte am Ende gar noch schwanger werden. Was dann?

Wie schwierig ist der Umgang mit den Behörden bei Namens- und Geschlechtswechseln?
Es ist je nach Kanton unterschiedlich. Hier in Zug ist ein Namenswechsel relativ unkompliziert und dauert etwa drei Monate. Im Kanton Zürich muss man den Behörden aber erst mal zwei Jahre lange «beweisen», dass man den neuen Namen auch nützt, bevor er offiziell gewechselt wird. Nur: Wie kann man ihn führen, wenn man ihn nicht im Ausweis hat? So kann man nicht mal einen eingeschriebenen Brief bei der Post abholen. Änderungen des Geschlechtseintrags wiederum laufen über einen Gerichtsentscheid.

Man kann also einen männlichen Vornamen haben, aber im Pass weiblich sein?
Ja, das geht, bei mir ist das zum Beispiel der Fall. Ich bin mir zwar bewusst, dass ich damit potenziell immer mit einem Zwangsouting rechnen muss; nur bis jetzt hat das noch kein Zöllner in meinem Pass registriert, scheinbar ist der Geschlechtseintrag völlig überflüssig. Und noch immer muss man für einen Personenstandswechsel in den meisten Schweizer Kantonen nachweisen, dass man sterilisiert ist. Weil sonst könnte man als Mann Mutter werden oder als Frau Vater. Solche Konfusionen wirken auf viele Bürger hierzulande immer noch sehr bedrohlich. In Deutschland oder Argentinien geht es auch ohne diesen Nachweis, die Schweiz hinkt hinterher. Es scheint immer noch eine dramatische Sache zu sein, sein Geschlecht ändern zu wollen.

Wenn man seinen Körper angepasst hat, kann man dann einfach Mann oder Frau sein? Oder bleibt das Trans-Element immer irgendwie erhalten?
Ganz ablegen kann man es wohl nie. Vielleicht wenn man die Anpassung injungen Jahren macht und dann einige Zeit vergeht. Aber je länger die Vorgeschichte im anderen Geschlecht gedauert hat, desto häufiger wird man mit dieser Vergangenheit auch immer mal wieder konfrontiert. Aber irgendwann hat man dann genug und will sich nicht mehr erklären müssen. Wenn der Alltag rund läuft, denkt man nicht mehr so oft daran.

Gibt es eine Szene für Trans-Menschen so wie es Bars und Clubs für Schwule und Lesben gibt?
Der Austausch passiert häufig online, aber auch an Stammtischen, die regelmässig stattfinden. Aber das sind eher Selbsthilfegruppen als Kontaktforen.

Eine Partnersuche findet dort nicht statt?
Die meisten suchen nicht explizit nach anderen Transmenschen, obwohl es das natürlich auch gibt. Erstaunlicherweise ist es gar nicht so schwierig, ausserhalb der Trans-Welt einen Partner zu finden. Das Körperliche ist am Ende eben doch sekundär wenn der Rest stimmt.

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