Mittwoch, 23. Januar 2013

"Diskriminierung ist mir nicht erspart geblieben"


Copyright © 2011-2021 Nikita Noemi Rothenbächer- Alle Rechte vorbehalten!

Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013

Bitte kopiert den Link und gebt diesen euren Verwandten, Freunde, Bekannten und Familie denn Information beugt vor, einer Minderheit anzugehören!


Ein Geschlecht, das weder Frau noch Mann ist

In Deutschland kommen pro Jahr bis zu 120 Menschen zwischengeschlechtlich zur Welt. Nun berät der Deutsche Ethikrat, wie diese Menschen ein Leben in Würde führen können.

Auf die Frage "Mädchen oder Junge?" wissen die Ärzte keine Antwort, als Diana Hartmann im Jahr 1965 in einer Klinik im Spessart zur Welt kommt. Sie ist gesund. Aber ihre Genitalien sind, wie es die Mediziner nennen, "uneindeutig". Diana ist irgendwo auf der Skala zwischen den Polen "Mann" und "Frau" geboren.

Die Ärzte beschließen, dass Diana ein Junge sein soll. Die Mutter erkennt in dem Säugling ein Mädchen – eben "Diana". Die Ärzte wollten das Kind operieren, "zum Mann machen". Die Mutter weigert sich – mit drastischen Folgen.

Hartmann ist kein Einzelfall:

In Deutschland kommen nach Angaben einer Studie der Universitätsklinik zu Lübeck im Jahr 80 bis 120 Kinder zwischengeschlechtlich zur Welt.

Wie viele es genau sind, weiß jedoch niemand.

Diese Babys passen von Anfang an nicht ins Geschlechterschema.

Das kann viele Gründe haben.
Sie tragen nicht den geschlechtsspezifischen Chromosomensatz, ihre Hormone funktionieren anders als bei den meisten Menschen, sie besitzen männliche und weibliche Fortpflanzungsorgane – oder eine Mischung aus diesen Faktoren.

Sie sind intersexuell.

 Das bedeutet in einer Gesellschaft, in der noch in vielen Situationen zwischen den Geschlechtern unterschieden wird, eine große Unsicherheit für ein so kleines Leben, für Eltern, Ärzte und Behörden.

Soll ein drittes Geschlecht eingeführt werden?

Seit Dezember 2010 berät der Deutsche Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung, wie alle Beteiligten diesen Kindern ein Leben in Würde ermöglichen können. Dazu führten Experten aus Medizin, Rechts- und Sozialwissenschaften und intersexuelle Menschen einen Diskurs in schriftlichen Stellungnahmen, in einer Onlinediskussion und in einer öffentlichen Anhörung.
Viele Hundert Seiten Material seien zusammengekommen, so der Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrats, Joachim Vetter.

In der kommenden Woche will der Rat nun seine Stellungnahme veröffentlichen. Im Kern geht es um zwei Fragen:

Soll ein drittes Geschlecht eingeführt werden, damit intersexuelle Menschen sich nicht in das Raster von Mann und Frau einsortieren müssen, sondern selbst bestimmen dürfen, was sie sind?
Und:
Dürfen "angleichende" Operationen durchgeführt werden und wenn ja, in welchem Alter und unter welchen Umständen?

In der Vergangenheit wurden viele Intersexuelle im frühen Kindesalter operiert.
Typisch war etwa die Entnahme von Gonaden oder die Reduktion der Klitoris – also Eingriffe, die nicht umkehrbar sind.

Garantieren, dass sich die Kinder in ihrem späteren Leben auch diesem anoperierten Geschlecht zugehörig fühlen würden, konnten Mediziner nicht.

Bei jeder Operation bestand zudem das Risiko von schmerzhaften Verwachsungen und Narbenbildung. Oft operierten die Ärzte im ersten Jahr nach der Geburt, da sie davon ausgingen, dass so schwerwiegende Traumata verhindert werden könnten.

In einigen Fällen erfuhren diese Kinder gar nicht, dass sie nicht als "typisches" Mädchen oder als "gewöhnlicher" Junge auf die Welt gekommen sind.

Auch heute, sagt die Vorsitzende der Interessengruppe "Intersexuelle Menschen e.V.", Lucie Veith, werden solche Operationen, bei denen die Kinder nicht über ihren Körper mitbestimmen dürfen, noch durchgeführt.

"Ich erhoffe mir, dass keinem Menschen in Deutschland ein Genital zerschnitten wird – egal wie es aussieht –, wenn dieser Mensch es nicht selbst möchte", sagt Veith über ihre Erwartungen an die Stellungnahme des Ethikrats. Spürte, dass eine Operation unrecht ist

Schon vor 46 Jahren spürte Hartmanns Mutter, dass eine solche Operation unrecht ist.

Das Kind ist gesund, warum sollte es operiert werden?
Nur weil es anders aussieht?
Die Mutter ist selbst intersexuell, kennt die Praktiken, die an Menschen wie ihr während der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführt wurden.
Sie ist jüdisch und hat den Holocaust überlebt. Hartmanns Vater ist Afroamerikaner. Er hat sich von der jungen Familie getrennt.

Hartmanns Mutter ist nun alleinerziehend. Sie trägt die Verantwortung für ein Kind, das Mitte der 1960er-Jahre in Deutschland aus jeder Schublade herausfällt: Schwarz, jüdisch, intersexuell und unehelich. Und sie sagt Nein zum Konformismus. "Womit aufhören, womit anfangen, mit dem Anpassen?", fragt Hartmann. Es gibt Sorgerechtsstreitigkeiten. Diana "kommt weg", wie die Mutter es nennt, ins Heim.

Olaf Hiort kennt die Situation, mit der Eltern bei der Geburt eines intersexuellen Kindes konfrontiert werden. Er ist Professor für Kinder und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und hat sich auf die Geschlechtsentwicklung spezialisiert. Für Eltern und seine Kollegen wünscht sich Hiort einen Wegweiser, an dem sich Mediziner orientieren können. Er stellt sich Kompetenzzentren vor, in denen Kinder und Eltern umfassende Beratung erhalten können, etwa so, wie sie in Spezialkliniken für Kinder mit seltenen Herzfehlern stattfindet.

"Ein Kind muss in seinem familiären Kontext unbeeinträchtigt aufwachsen", sagt Hiort. Das sorge für Sicherheit und Lebensqualität der Kinder. Die Eltern, so Hiort, sollten deswegen auch über eine Operation mitentscheiden dürfen: "Das gehört zu den Aufgaben von Eltern." Von einem Verbot der Operationen vor dem 18. Lebensjahr hält er nichts: "Kann das Verhindern von Entscheidungen nicht genauso Leid auslösen? Das ist die Frage, die nicht untersucht ist."

Nach einem halben Jahr darf Hartmann zurück zu ihrer Mutter. Sie wandern umgehend nach Amerika aus, an die Ostküste, nach Providence, Rhode Island. "Meine Mutter dachte, in Amerika sei alles viel besser. In Amerika ging es dann erst richtig los", sagt Hartmann. Weil sie nicht operiert war, wird sie von Medizinern als Kuriosum betrachtet. "Die kommen mit einer Spritze und sagen, wir wollen dir eine Impfung geben. Du hast Angst vor Spritzen, du schreist, du wirst weggeholt. Zack – pressen sie dir die Beine auseinander und zehn Studenten gucken dir dann dahin und fotografieren dich.

Mutter und Tochter vermeiden Arztbesuche

Ein Arzt bescheinigt ihr ohne eingehende Untersuchung das "Adrenogenitale Syndrom" (AGS). Mutter und Tochter vermeiden nach diesen Erlebnissen Arztbesuche. Und so kommt es, dass Hartmann bis vor wenigen Monaten nicht weiß, was eigentlich genau mit ihr los ist. Ihre Sexualität ist Privatsache. Diana spricht nicht über ihre Intersexualität. Anderen sagt sie, sie sei ein "Transmann", eine Frau, die zum Mann wurde. "Das hat keiner infrage gestellt", sagt Hartmann.

Es gibt eine Vielzahl von Ausprägungen, die zur Intersexualität führen können. Intersexuelle Menschen sprechen ungern von "Erkrankungen", weil viele Menschen beschwerdefrei mit ihren Besonderheiten leben. Dennoch werden Ursachen der Intersexualität in der Liste der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, der "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" (ICD), aufgeführt. Denn bei einigen der Ausprägungen können durchaus gesundheitliche Probleme auftreten, die eine medizinische Behandlung nötig machen.

Einige Ausprägungen führen zu Unfruchtbarkeit, während andere intersexuelle Menschen zeugungsfähig sind. Die verschiedenen Ausprägungen der Intersexualität können in den Geschlechtschromosomen, den sogenannten Gonosomen, liegen. Etwa beim Klinefelter-Syndrom, bei dem Kinder mit den Geschlechtschromosomen XXY zur Welt kommen. Beim Turner-Syndrom liegt dagegen nur ein Geschlechtschromosom, das X, vor. Andere Kinder tragen ein "Mosaik" von Geschlechtschromosomen in sich: Zellpopulationen in ihrem Körper sind mit unterschiedlichen Gonosomen ausgestattet.

Hartmann lebt jahrelang mit der Diagnose AGS. Eines von 12.000 Kindern wird in Deutschland mit dieser genetisch übertragenen Stoffwechselerkrankung geboren. Bei ihnen ist die Umwandlung von Cholesterin in die in der Nebenniere gebildeten Hormone Kortisol und Aldosteron durch einen Enzymdefekt blockiert. Es kommt zu einem Mangel. Den versucht die Nebenniere auszugleichen, indem sie immer mehr Vorstufen dieser beiden Hormone produziert. Diese werden dann vom Körper in männliche Hormone, Androgene, umgewandelt. Bei Menschen mit XX-Chromosomen tritt entweder schon im Kindesalter oder erst zur Pubertät eine "Vermännlichung" ein. Menschen mit AGS, die XY-Gonosomen tragen, erleben eine vorzeitige Geschlechtsentwicklung.

Auch als Hartmann vor einigen Jahren mit einem gutartigen Eierstocktumor in die Klinik eingeliefert wird, gehen die Mediziner noch von AGS aus. Ihre Eierstöcke werden entfernt. Diese Operation ist für ihr Leben ein bedeutender Einschnitt: "Ich bin mit der biologischen Konsequenz aufgewacht." Sie sucht über das Internet nach Informationen und stößt auf www.intersexuelle-menschen.net , die Website von Lucie Veiths Selbsthilfegruppe. Sie lernt andere intersexuelle Menschen kennen und beginnt offen über sich zu sprechen. Hartmann nimmt an der öffentlichen Sitzung im Ethikrat teil – und spricht dort im Namen der Menschen mit AGS.

"Diskriminierung ist mir nicht erspart geblieben"

Bei der Sitzung im Juni 2011 wird sie auch auf neue Untersuchungsmethoden aufmerksam. Hartmann geht in die Klinik. Die Ärzte stellen fest: Sie hat kein Adrenogenitales Syndrom. Sie hat "Ovotestis", also männliche und weibliche Keimdrüsen. Bis zu der Operation des Eierstocktumors hatte Hartmann keine gesundheitlichen Probleme. Die Probleme, die sie hatte, kamen von außen "Es ist gut, nicht operiert zu werden. Natürlich. Aber der ganze Wust an Auseinandersetzungen und Diskriminierung ist mir nicht erspart geblieben. Weil man ja nicht verstecken kann, wie man aussieht. Wir sind so, wie wir sind."
Die Medizinhistorikerin Ulrike Klöppel von der Humboldt-Universität in Berlin wünscht sich eine umgedrehte Herangehensweise zu der Frage operieren oder nicht operieren. Bislang ginge die Forschung immer von den intersexuellen Menschen aus, die bereits operiert sind. "Eigentlich hätte man andersherum anfangen müssen: Leben Menschen schlecht, wenn sie nicht operiert sind? Wenn nicht, was braucht man für Hilfestellungen? Das wäre Wissenschaft. So ist es ein groß angelegtes Experiment, das nur in eine Richtung geht und keinen Gegenbeweis erlaubt", sagt Klöppel.

Auch Hartmann wünscht sich eine Hilfestellung. Die hat aber nichts mit einer medizinischen Behandlung zu tun, sondern mit Aufklärung – mit einer Offenheit der Gesellschaft gegenüber dem Thema Geschlecht, Sexualität und Intersexualität. "Es geht um den Umgang miteinander", sagt Hartmann. Als sie sich als intersexuell "outet", reagieren die meisten Menschen in ihrem Umfeld positiv.
Fast jeder, denkt Hartmann, hat irgendein Problem mit seinem Aussehen, seiner Sexualität: "Niemand kann nackig über den Strand laufen und sagen, ich bin absolut normal." Deswegen sieht sie auch die Einführung eines dritten Geschlechts "mit großen Vorbehalten". Sie ist besorgt, dass es dadurch zu einer weiteren Abgrenzung intersexueller Menschen kommen könnte: "Wer ist das dritte Geschlecht? Wer ist das erste, das zweite?".
Noch muss innerhalb einer Woche nach der Geburt eines Kindes ein Haken gesetzt werden: Mädchen oder Junge, männlich oder weiblich. So will es das deutsche Personenstandsgesetz. Eine Aufschiebung in Ausnahmesituationen ist möglich, aber nicht bis zur Pubertät des Kindes. Der Gedanke, einfach ein weiteres Kästchen hinzuzufügen, liegt nah. Aber was soll daneben stehen?

Wann ist eine geschlechtliche Einteilung sinnvoll?

Wer für eine Reise nach Indien ein Visum beantragt, darf neben männlich und weiblich auch "transsexuell" ankreuzen. Doch diese Kategorie kommt für die meisten intersexuellen Menschen nicht infrage. "Wenn man mich fragen würde, welches Geschlecht ich habe, männlich, weiblich? Dann würde ich sagen: anders. Die Gedanken sind frei, nicht?", sagt Lucie Veith.

Medizinhistorikerin Klöppel wünscht sich, dass die Eintragung wegfällt oder zumindest so lange aufgeschoben wird, bis der Mensch selbst über sein Geschlecht entscheiden kann. Auch Olaf Hiort möchte, dass die Gesellschaft darüber nachdenkt, wann eine zweigeschlechtliche Einteilung sinnvoll ist und wann nicht.

"Ist es gesund?", ist die erste Frage nach der Geburt. Ob in Zukunft die zweite Frage "Mädchen oder Junge?" anders lautet oder wegfällt: Das könnten die Mitglieder des Ethikrats mit ihrer Stellungnahme beeinflussen. Wie man hört, sind sich die Mitglieder einig. Es gibt eine Meinung, keinen Unterschied.

1 Kommentar:

  1. Ein interessanter Artikel, der mich sehr nachdenklich macht. Da mir noch viele Hintergrund
    Informationen (meine Person betreffend), kann ich hier leider nicht mitschreiben aber trotzdem vielen Dank für alle eure Artikel und Beiträge, die für mich sehr hilfreich (da ich erst am Anfang meines Weges bin), sind. M.f.G Petra Marie ' Zurek

    AntwortenLöschen

Das Menschliche

Und Sie wissen nicht, mit was Sie es zutun haben! Doch diese bekommen euch, ein Fakt!

Heute in den TV- Medien, die Massen - Vergewaltigung einer 15 jährigen Schülerin, angeblich "Gastarbeiter bzw. FLÜCHTLINGE auch Poliz...