Donnerstag, 17. Januar 2013

I. Das Paradigma der zwei sich ausschließenden Geschlechter



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Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2013

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I. Das Paradigma der zwei sich ausschließenden Geschlechter

Es gibt zwei verschiedene Geschlechter, das männliche und das weibliche. Jeder Mensch gehört entweder dem einen oder dem anderen Geschlecht an, ist also entweder Mann oder Frau. Diese Feststellungen sind aber keineswegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. So bezeichnet Hirschauer (1992, S. 56) diese Unterscheidung als »eine kulturelle Leistung« und verdeutlicht damit ihre Konstruiertheit, bzw. ihren Charakter einer Setzung.

Es lässt sich zeigen, dass der Annahme von den zwei sich ausschließenden Geschlechtern Paradigmencharakter zukommt.
Als wissenschaftliche Gemeinschaft, die diese Annahme vertreten hat und vertritt, können die wissenschaftlichen Vertreter des abendländischen Kulturraums seit der römischen Antike betrachtet werden, wozu noch die in den letzten 500 Jahren europäisch geprägten Regionen Amerikas hinzuzurechnen sind.

Wenn man auch im römischen Reich ein androgynes Prinzip in Kunst und Philosophie verherrlichte, so wurden doch die Menschen, die sich bei ihrer Geburt als abweichend von der traditionellen Geschlechter-Dichotomie darstellten (und damit Anomalien des Paradigmas der zwei sich ausschließenden Geschlechter waren), als ›monstra‹ und als fatales Omen in einem Reinigungszeremoniell getötet (vgl. Hirschauer 1992, S. 57).

In der abendländischen Kultur wurden zur Aufrechterhaltung der Geschlechter-Dichotomisierung Regeln aufgestellt, die eine Zuweisung zu einem der beiden Geschlechter ermöglichen sollten. So wurde im 6. Jahrhundert in die Gesetzessammlung des Justitian ein Vorschlag römischer Juristen des 3. Jh. aufgenommen, der speziell für Fälle genitaler Uneindeutigkeit bei der Geburt galt: Das ›Überwiegen‹ der Merkmale sollte entscheiden. Die Grundlage dieser allgemein akzeptierten theoretischen Annahme war, dass die Frage nach dem Geschlecht eines Menschen eine Frage nach anatomisch-genitalen Strukturen sei. Das Geschlecht sei das Ergebnis einer körperlichen Erscheinung, das im seltenen Zweifelsfall durch intensive Inspektion der Genitalen zu erkennen ist.

Da aber auch die Regelung der ausführlichen Begutachtung bzw. der Abschätzung der überwiegenden Anteile nicht immer zu eindeutigen Entscheidungen führte, entwickelte das mittelalterliche kanonische Recht eine zusätzliche Lösung:

Ein geschlechtliches Wahlrecht für Zwitter. Der Vater legte bei der Taufe das vorerst beizubehaltende Geschlecht fest (s. Foucault 1980: VIII), aber im heiratsfähigen Alter konnte sich ein Zwitter selbst für ein Geschlecht entscheiden, indem er sich in einem ›promissorischen Eid‹ (Wacke 1989, S. 22) zu dem einen, gewählten Geschlecht bekannte und gleichzeitig dem anderen abschwor. Wenn diese Regelung auch als Kompromiss in schwierig zu entscheidenden Fällen angesehen wurde, so war doch die Ausschließlichkeit der Geschlechter, mit dem Zugeständnis der Verwechselbarkeit im Zweifelsfalle, gewährleistet.

Das dem Zivilrecht folgende Kirchenrecht löste das Problem der Namensgebung bei der Taufe dahingehend, dass man sich im Zweifelsfall für eine Zuordnung zum männlichen Geschlecht entschied. Diese Position schien darin begründet, dass man Zwitter nicht von den männlichen Privilegien ausschließen wollte, die ihnen möglicherweise zukamen. Stellte die Möglichkeit der Geschlechtswahl bei Vollendung der Volljährigkeit noch eine Art Lücke der vorkirchlichen Rechtsprechung in bezug auf die Regelung der Unveränderlichkeit der Geschlechter dar, so wurde im Rahmen der neuen Rechtsprechung ein Bruch des Geschlechtseides bis ins späte 17. Jh. als Sodomie mit dem Tode bestraft.

Später wurde dann die Frage diskutiert, ob ein Zwitter, der sich für ein Leben als Frau entschieden hatte, nach dem Tode des Gatten das Mannsein wählen könne, »weil er von der Natur der Gestallt begabet worden, dass er beyderley Geschlechte succesiue eine völlige Genüge leisten könne« (Zedler 1735, S. 1725).

Bedeutsam ist daran vor allem, dass man sich zwar eine Doppelgeschlechtlichkeit vorstellen konnte, diese aber »succesiue«, also ›nachfolgend‹ bzw. ›sich ablösend‹ stattfinden sollte.

Eine Doppelgeschlechtlichkeit als eine Vereinigung weiblicher und männlicher Eigenschaften im Sinne einer Androgynie war nicht vorstellbar. Wenn ein solcher Wechsel des Geschlechts auch für schimpflich, eine solche Ehe aber für gültig gehalten wurde (Wacke 1989, S. 23), blieb trotz Geschlechtswechsels die Verpflichtung bestehen, sich (wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum) auf ein bestimmtes Geschlecht festzulegen.

Außerdem stand diese Wahlfreiheit nur den Personen mit genitaler Uneindeutigkeit offen.

Eine Anomalie der allgemein üblichen Entscheidungspraxis im Sinne Kuhns stellt im 16. Jh. der Fall der/des Thomas(ine) Hall dar. Thomas(ine) Hall wurde 1570 in Newcastle upon Tyne geboren und zog in seiner Jugend als Soldat für England in den Krieg. Anschließend setzte sie ihr Leben als Frau fort, um daraufhin als Mann auf Reisen zu gehen, bevor sie in Virginia als Kammerzofe arbeitete. Das Gericht, vor das Thomas(ine) 1629 zitiert wurde, fand, dass eine fixierte Doppelgeschlechtlichkeit leichter zu akzeptieren sei als eine ständige Metamorphose und stellte öffentlich fest: »Hall is a man and a woman.« (vgl. Greenblatt 1986, S. 329 f.)

Ab dem 18. Jh. wurde dann die Vorstellung einer Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter aufgrund des ›Überwiegens‹ geschlechtstypischer Merkmale, worunter man die Ausformung der Genitalien und der Geschlechtszuschreiben aufgrund von Kleidung, Mimik, Habitus usw. verstand (s. Lindemann, 1992), durch die Vorstellung abgelöst, es gäbe ein ›wahres‹ Geschlecht, das scheinbar selbstverständlich entweder männlich oder aber weiblich sei.

Dieses ›wahre‹ Geschlecht galt es herauszufinden.

Das Phänomen des Hermaphroditismus, das bis dahin einen Problemfall der Geschlechter-Dichotomie darstellte, wurde nun als ›Pseudo-Hermaphroditismus‹ in das Schema der zwei Geschlechter eingeordnet.

So wurde 1. in Zwitter männlichen Geschlechts unterschieden, deren Exemplare von bartlos-zarten Weibmännern mit schwachen Neigungen zu Frauen bis hin zu Individuen mit außerordentlichen Genitalien reichen sollten; und 2. die Zwitter weiblichen Geschlechts, die neben den durch Ausbleiben der Menstruation entstehenden Mann-Weibern auch Individuen mit vergrößerter Klitoris umfassten, die die Ausschweifung der Tribadie ermögliche. Allerdings war auch diese Kategorisierung nicht ausreichend, so dass Thon als dritte Kategorie die Zwitter mit zweideutigem Geschlecht einführen musste. Thon schätzte die meisten Berichte über diese dritte Kategorie jedoch als »unsichere Beobachtung« ein, wobei er aber gleichzeitig detaillierte Schilderungen der anatomisch observierten Geschlechtsteile eines gewissen Hubert Jean Pierre gab.

Es bestand jedoch Übereinstimmung darüber, dass diese dritte Kategorie letztlich nur ein Problem der genauen juristisch-medizinischen Bestimmbarkeit darstellte. »Mitunter wird der gerichtliche Arzt den Hermaphroditismus wohl einräumen müssen […] oft wird ein vollständiges Urtheil sogar erst nach dem Tode des betreffenden Individuums durch die Sextion zu erlangen seyn« (Ersch & Gruber 1829, S. 285 f.).

 Daher folgte der Code Civil von 1804 und das gut sechzig Jahre später erlassene BGB der medizinischen Erkenntnis, dass es keine echten Hermaphroditen gäbe, und verzichtete auf eine entsprechende Regelung für die Geschlechterzuordnung.

Damit wurde nicht nur die Tradition der zwei sich ausschließenden Geschlechter fortgeschrieben, sondern gleichzeitig auf eine Problematisierung dieser Setzung, wie sie in den mittelalterlichen Sonderregelungen deutlich wird, verzichtet.

 Statt dessen überließen die Gerichte die Geschlechtsbestimmung weitgehend den Medizinern.

Mit der Fortentwicklung der medizinischen Diagnostik wurde jedoch keine Lösung des Problems erreicht, da sich mit der Entwicklung der Hormon- und Chromosomenanalyse weitere Probleme ergaben.

»So wurde z.B. zwischen 1952 und 1958 etwa ebenso viele echte Hermaphroditen veröffentlicht wie in den Jahren 1900–1951« (Overzier 1961, S. 537). Die medizinische Terminologie hat auf der Basis der neuen Geschlechtsbestimmungsmethoden ihren Gegenstand in viele Syndrome aufgefächert:
Man kennt nun neben dem echten Hermaphroditismus die ›testikuläre Feminisierung‹, das ›Swyer-‹ und das ›Reifenstein-Syndrom‹, das ›Mayer-Rokiansky-Küster-Hauser-Syndrom‹ und das ›Klinefelter-Syndrom‹. Da diese Syndrome nicht mit zweideutigen Genitalien einhergehen, erfolgt einer Geschlechtszuweisung der Tradition der letzten 2000 Jahre folgend unabhängig vom hormonellen und chromosomalen Befund auf der Basis der Inspektion der Genitalien.

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