Donnerstag, 14. August 2014

"Die meisten Stricher kommen aus Osteuropa"

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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"Die meisten Stricher kommen aus Osteuropa"
Damit bleiben eigentlich nur die Industriegebiete übrig. Zu weit weg von der Szene. Da trifft man sich dann doch in den einschlägigen Lokalen - und zieht sich zum Vollzug in die Wohnung des Freiers zurück. Dabei riskieren beide Seiten viel: Wer weiß schon, wer einen da aufs Zimmer begleitet?
Einmal, vor sechs Jahren, ist René an seine Grenzen geraten. Aufhören wollte er, Schluss machen, den ganzen Stress hinter sich lassen. Ein Freier, angeblich ein berühmter Hamburger Journalist, hatte ihn gefesselt und so massiv gewürgt, dass er ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Sechs Monate pflegte René seine Wunden, die äußeren und die inneren.

Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Der Grund: klar, das Geld. "Wegen dem Spaß bestimmt nicht", sagt der 33-Jährige und lacht bitter. Der Zynismus in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

Die meisten Freier würden ihn allerdings gut behandeln, einmal hat er sich bei der Arbeit sogar verliebt. "Sechs Monate waren wir ein Paar", erinnert sich René. Dann musste der Freund ins Gefängnis. Dennoch sei es wichtig, zwischen beruflichem und privatem Sex zu trennen: "Anders könnte ich den Job nicht überstehen."

Der Wirt in der schummrigen Kneipe kennt René seit zehn Jahren, auch ihm ist aufgefallen, dass der junge Tscheche in dieser Zeit "härter und reifer" geworden ist. "Aber zu dem Job wird ja niemand gezwungen." Während der 15 Jahre, in denen er die Kneipe im Glockenbachviertel führt, habe sich die Szene sehr verändert: Früher gingen hauptsächlich türkische und deutsche Männer auf die Straße, um nebenher was zu verdienen. Von irgendetwas mussten sie ihre Drogen ja bezahlen.

Bei den osteuropäischen Strichern von heute aber gehe es um die Aussicht auf ein besseres Leben, um eine Perspektive, um eine Chance - um Werte also, die sie in ihren Heimatländern kaum finden.

Einmal pro Woche kommt Wolfgang Zeilnhofer-Rath in die Kneipe. Der 49-Jährige ist Sozialpädagoge und arbeitet für Marikas, eine Münchner Beratungsstelle für anschaffende Männer. Dem Streetworker geht es vor allem um die Gesundheitsprävention: Er und seine Mitarbeiter verteilen Flyer und Kondome und stehen für Fragen zur Verfügung. "Wenn wir in die Kneipen kommen, schauen wir uns erstmal in Ruhe um und beobachten die Lage", sagt er.

Mittlerweile erkennt er schnell, mit wem er es zu tun hat: bei den Ü-50- oder Ü-60-Männern mit Freiern, bei den Jungs zwischen 18 und Ende 20 mit ihren Strichern. Außerdem ist da noch die Nationalität: "Die meisten Freier sind Deutsche, die meisten Stricher kommen aus Osteuropa."

Das war jedoch nicht immer so: Nach der Wende und dann noch einmal nach der EU-Osterweiterung kamen immer mehr junge Männer, zuerst aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen und den Baltischen Staaten, inzwischen vor allem aus Bulgarien und Rumänien, nach Deutschland, um hier anzuschaffen. Gerade die Bulgaren und Rumänen hätten, so der Wirt, in der Schwulenszene jedoch keinen besonders guten Ruf: zu faul, zu langweilig im Bett und unsauber.

Zeilnhofer-Rath kennt die Szene sehr gut, mehrere Jahre hat er in ähnlichen Kneipen gearbeitet und früher selbst in homosexuellen Partnerschaften gelebt. Mittlerweile ist der Streetworker in den Kneipen so bekannt, dass die Stricher von sich aus auf ihn zukommen, wenn sie etwas wissen wollen: über Schlafmöglichkeiten, ihren Aufenthaltsstatus, legale Prostitution, Krankenversicherung - und über Ausstiegsmöglichkeiten.

"Je größer die Not, desto niedriger der Preis"

Dreimal in der Woche können die Männer auch direkt ins Dreimühlenviertel zur Beratungsstelle Marikas kommen. Die Stricher finden dort eine eigene Wohnung für sich: drei Zimmer, Küche, Bad.
Von halb sieben morgens bis vierzehn Uhr stehen ihnen dort sechs Schlafplätze zur Verfügung, Hochbetten, von der Bundeswehr aussortiert. Nach dem Essen stehen Wäschewaschen, Internet, Kicker- oder Brettspiele für nachmittags auf dem Programm - und bei Bedarf Gespräche mit den Sozialpädagogen.

"Teilweise bringen wir denen hier ganz grundlegende Dinge bei", sagt Carmen Jörg, die Marikas seit vier Jahren leitet. Wie man ein Kondom richtig benutzt, zum Beispiel, und dass man sich dadurch vor Aids und Geschlechtskrankheiten schützen kann. Die Sozialpädagogin wirkt wie eine Frau, die viel gesehen und erlebt hat. Wenn die 43-Jährige von den Strichern, den "Jungs", erzählt, klingt ihre Stimme hart.

Sie beschönigt nichts, redet frei über Sexpraktiken und die Probleme, die man als Frau bei der Arbeit mit männlichen Prostituierten hat: keinen Respekt, Scham, Unverständnis. "Die meisten Jungs, die wir hier kennen lernen, sind Familienväter zwischen 20 und 25 Jahren", sagt Jörg. Von den Gagen der Callboys, die auch für Besuche im Museum, der Oper oder Vernissagen bezahlt werden, können sie nur träumen.

"Es gibt Jungs, die machen 's für zehn, andere für 100 Euro." Einige der Stricher bezahlen mit ihrem Körper nur für ein warmes Essen, für eine Nacht mit Decke über dem Kopf - oder für ein Handy. Das Einzige, was man definitiv sagen kann: "Je größer die Not, desto niedriger der Preis."

Bei den Freiern handelt es sich laut Carmen Jörg größtenteils um ältere, allein stehende Männer, die keinen Partner finden. In der Schwulenszene kommt es immer noch mehr als in heterosexuellen Beziehungen auf Schönheit und Jugend an: ein Grund, warum vor allem die blutjungen Stricher so begehrt sind.

Einige wenige Freier würden aber auch in heterosexuellen Partnerschaften leben und sich nicht trauen, ihre Homosexualität offen auszuleben - und sich dann im Internet oder in Szenekneipen einen Stricher suchen.

"Meine Eltern würden die Wahrheit nicht überleben"
Die viele Stricher es genau in München gibt, ist unklar. Je nachdem, ob man bei der Polizei, in den Kneipen oder in der Beratungsstelle nachfragt, schwanken die Zahlen von 23 über 100 bis 700. Klar ist jedoch, dass sie alle hinter dem großen Geld her sind. Einige kaufen sich vor allem westliche Statussymbole, andere schicken den Großteil zu ihren Familien ins Ausland - und wieder andere planen damit ganz spießig für die Zukunft.

René, der junge Tscheche, ist einer von ihnen. Er hat neben Kleidung und "Schnickschnack" von seinem Verdienst schon eine 70 Quadratmeter große Eigentumswohnung in Tschechien gekauft. Den größten Teil des Geldes legt er aber auf die Seite, "für später", wie er sagt. Dann will René in seinem Heimatland eine Bar aufmachen, die Leute sollen zu ihm kommen und sich wohl fühlen.

Wohl fühlen? René wirkt jetzt nachdenklich, sein Fuß hört für einen kurzen Moment auf zu wippen, das Trommeln des Fingers lässt nach. "Ich habe hier meine besten Jahre verbracht", sagt er und schaut sich langsam in der dunklen, verrauchten Kneipe um. "Das hinterlässt natürlich Spuren in der Psyche."

Wirklich guten Freunden würde er deshalb auch nie zu diesem Job raten. "Ob ich glücklich bin?", fragt René ungläubig zurück. Er zuckt mit den Schultern und denkt kurz nach. "Ja, ich meine, glücklich sein ist doch subjektiv." Nach einem kurzen Zögern ergänzt er: "Ich bin nicht unglücklich."

Trotzdem treibt es ihn immer wieder heim, weg von München. Wenn er genügend Geld beisammen hat, fährt er zurück nach Tschechien. Dort behauptet er, "in der Gastronomie" zu arbeiten; nur die engsten Freunde wissen, womit er sein Geld tatsächlich verdient.

"Meine Eltern würden die Wahrheit nicht überleben", sagt er. Doch irgendwann wird das Geld wieder knapp. Dann packt René seine Sachen zusammen, verabschiedet sich von seinen Freunden und von der Familie. Macht sich wieder auf den Weg. Nach Deutschland, auf den Strich.



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