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Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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In Zusammenarbeit mit der Antidiskriminierungsstelle des
Bundes
"Die meisten Stricher kommen aus
Osteuropa"
Damit bleiben
eigentlich nur die Industriegebiete übrig. Zu weit weg von der Szene. Da trifft
man sich dann doch in den einschlägigen Lokalen - und zieht sich zum Vollzug in
die Wohnung des Freiers zurück. Dabei riskieren beide Seiten viel: Wer weiß
schon, wer einen da aufs Zimmer begleitet?
Einmal, vor sechs Jahren, ist René an seine Grenzen geraten.
Aufhören wollte er, Schluss machen, den ganzen Stress hinter sich lassen. Ein
Freier, angeblich ein berühmter Hamburger Journalist, hatte ihn gefesselt und
so massiv gewürgt, dass er ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Sechs
Monate pflegte René seine Wunden, die äußeren und die inneren.
Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Der Grund: klar,
das Geld. "Wegen dem Spaß bestimmt nicht", sagt der 33-Jährige und
lacht bitter. Der Zynismus in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
Die meisten Freier würden ihn allerdings gut behandeln,
einmal hat er sich bei der Arbeit sogar verliebt. "Sechs Monate waren wir
ein Paar", erinnert sich René. Dann musste der Freund ins Gefängnis.
Dennoch sei es wichtig, zwischen beruflichem und privatem Sex zu trennen:
"Anders könnte ich den Job nicht überstehen."
Der Wirt in der schummrigen Kneipe kennt René seit zehn
Jahren, auch ihm ist aufgefallen, dass der junge Tscheche in dieser Zeit
"härter und reifer" geworden ist. "Aber zu dem Job wird ja
niemand gezwungen." Während der 15 Jahre, in denen er die Kneipe im
Glockenbachviertel führt, habe sich die Szene sehr verändert: Früher gingen
hauptsächlich türkische und deutsche Männer auf die Straße, um nebenher was zu
verdienen. Von irgendetwas mussten sie ihre Drogen ja bezahlen.
Bei den osteuropäischen Strichern von heute aber gehe es um
die Aussicht auf ein besseres Leben, um eine Perspektive, um eine Chance - um
Werte also, die sie in ihren Heimatländern kaum finden.
Einmal pro Woche kommt Wolfgang Zeilnhofer-Rath in die
Kneipe. Der 49-Jährige ist Sozialpädagoge und arbeitet für Marikas, eine
Münchner Beratungsstelle für anschaffende Männer. Dem Streetworker geht es vor
allem um die Gesundheitsprävention: Er und seine Mitarbeiter verteilen Flyer
und Kondome und stehen für Fragen zur Verfügung. "Wenn wir in die Kneipen
kommen, schauen wir uns erstmal in Ruhe um und beobachten die Lage", sagt
er.
Mittlerweile erkennt er schnell, mit wem er es zu tun hat:
bei den Ü-50- oder Ü-60-Männern mit Freiern, bei den Jungs zwischen 18 und Ende
20 mit ihren Strichern. Außerdem ist da noch die Nationalität: "Die
meisten Freier sind Deutsche, die meisten Stricher kommen aus Osteuropa."
Das war jedoch nicht immer so: Nach der Wende und dann noch
einmal nach der EU-Osterweiterung kamen immer mehr junge Männer, zuerst aus
Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen und den Baltischen Staaten, inzwischen
vor allem aus Bulgarien und Rumänien, nach Deutschland, um hier anzuschaffen.
Gerade die Bulgaren und Rumänen hätten, so der Wirt, in der Schwulenszene
jedoch keinen besonders guten Ruf: zu faul, zu langweilig im Bett und unsauber.
Zeilnhofer-Rath kennt die Szene sehr gut, mehrere Jahre hat
er in ähnlichen Kneipen gearbeitet und früher selbst in homosexuellen
Partnerschaften gelebt. Mittlerweile ist der Streetworker in den Kneipen so
bekannt, dass die Stricher von sich aus auf ihn zukommen, wenn sie etwas wissen
wollen: über Schlafmöglichkeiten, ihren Aufenthaltsstatus, legale Prostitution,
Krankenversicherung - und über Ausstiegsmöglichkeiten.
"Je größer die Not, desto niedriger der
Preis"
Dreimal in der
Woche können die Männer auch direkt ins Dreimühlenviertel zur Beratungsstelle
Marikas kommen. Die Stricher finden dort eine eigene Wohnung für sich: drei
Zimmer, Küche, Bad.
Von halb sieben morgens bis vierzehn Uhr stehen ihnen dort
sechs Schlafplätze zur Verfügung, Hochbetten, von der Bundeswehr aussortiert.
Nach dem Essen stehen Wäschewaschen, Internet, Kicker- oder Brettspiele für
nachmittags auf dem Programm - und bei Bedarf Gespräche mit den
Sozialpädagogen.
"Teilweise bringen wir denen hier ganz grundlegende
Dinge bei", sagt Carmen Jörg, die Marikas seit vier Jahren leitet. Wie man
ein Kondom richtig benutzt, zum Beispiel, und dass man sich dadurch vor Aids
und Geschlechtskrankheiten schützen kann. Die Sozialpädagogin wirkt wie eine
Frau, die viel gesehen und erlebt hat. Wenn die 43-Jährige von den Strichern,
den "Jungs", erzählt, klingt ihre Stimme hart.
Sie beschönigt nichts, redet frei über Sexpraktiken und die
Probleme, die man als Frau bei der Arbeit mit männlichen Prostituierten hat:
keinen Respekt, Scham, Unverständnis. "Die meisten Jungs, die wir hier
kennen lernen, sind Familienväter zwischen 20 und 25 Jahren", sagt Jörg.
Von den Gagen der Callboys, die auch für Besuche im Museum, der Oper oder
Vernissagen bezahlt werden, können sie nur träumen.
"Es gibt Jungs, die machen 's für zehn, andere für 100
Euro." Einige der Stricher bezahlen mit ihrem Körper nur für ein warmes
Essen, für eine Nacht mit Decke über dem Kopf - oder für ein Handy. Das
Einzige, was man definitiv sagen kann: "Je größer die Not, desto niedriger
der Preis."
Bei den Freiern handelt es sich laut Carmen Jörg
größtenteils um ältere, allein stehende Männer, die keinen Partner finden. In
der Schwulenszene kommt es immer noch mehr als in heterosexuellen Beziehungen
auf Schönheit und Jugend an: ein Grund, warum vor allem die blutjungen Stricher
so begehrt sind.
Einige wenige Freier würden aber auch in heterosexuellen
Partnerschaften leben und sich nicht trauen, ihre Homosexualität offen
auszuleben - und sich dann im Internet oder in Szenekneipen einen Stricher
suchen.
"Meine Eltern würden die Wahrheit nicht
überleben"
Die viele Stricher es genau in München gibt, ist unklar. Je
nachdem, ob man bei der Polizei, in den Kneipen oder in der Beratungsstelle
nachfragt, schwanken die Zahlen von 23 über 100 bis 700. Klar ist jedoch, dass
sie alle hinter dem großen Geld her sind. Einige kaufen sich vor allem
westliche Statussymbole, andere schicken den Großteil zu ihren Familien ins
Ausland - und wieder andere planen damit ganz spießig für die Zukunft.
René, der junge Tscheche, ist einer von ihnen. Er hat neben
Kleidung und "Schnickschnack" von seinem Verdienst schon eine 70
Quadratmeter große Eigentumswohnung in Tschechien gekauft. Den größten Teil des
Geldes legt er aber auf die Seite, "für später", wie er sagt. Dann
will René in seinem Heimatland eine Bar aufmachen, die Leute sollen zu ihm
kommen und sich wohl fühlen.
Wohl fühlen? René wirkt jetzt nachdenklich, sein Fuß hört
für einen kurzen Moment auf zu wippen, das Trommeln des Fingers lässt nach.
"Ich habe hier meine besten Jahre verbracht", sagt er und schaut sich
langsam in der dunklen, verrauchten Kneipe um. "Das hinterlässt natürlich
Spuren in der Psyche."
Wirklich guten Freunden würde er deshalb auch nie zu diesem
Job raten. "Ob ich glücklich bin?", fragt René ungläubig zurück. Er
zuckt mit den Schultern und denkt kurz nach. "Ja, ich meine, glücklich
sein ist doch subjektiv." Nach einem kurzen Zögern ergänzt er: "Ich
bin nicht unglücklich."
Trotzdem treibt es ihn immer wieder heim, weg von München.
Wenn er genügend Geld beisammen hat, fährt er zurück nach Tschechien. Dort
behauptet er, "in der Gastronomie" zu arbeiten; nur die engsten
Freunde wissen, womit er sein Geld tatsächlich verdient.
"Meine Eltern würden die Wahrheit nicht
überleben", sagt er. Doch irgendwann wird das Geld wieder knapp. Dann
packt René seine Sachen zusammen, verabschiedet sich von seinen Freunden und
von der Familie. Macht sich wieder auf den Weg. Nach Deutschland, auf den
Strich.
Quelltext: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/prostitution-rene-aus-muenchen-ein-leben-als-stricher-1.160590-2
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