Donnerstag, 6. November 2014

Transgender in Indien Weder er noch sie

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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Transgender in Indien

Weder er noch sie!
In Indien gibt es mehrere Millionen Hijras, weibliche Seelen in männlichen Körpern. Auf den Straßen Delhis werden sie verachtet, verspottet, missbraucht. Seit kurzem sind sie offiziell als „drittes Geschlecht“ anerkannt. Ob sich dadurch viel ändert?

Transgender in Indien: Weder er noch sie


Sanjana reißt die Arme in die Luft. Sie klatscht in die Hände und dreht sich schwungvoll um die eigene Achse. Wild wirbeln die Enden ihres grünen Sari durch die stickige Luft des kleinen Zimmers. Es ist drückend heiß in Indiens Hauptstadt Delhi, doch das kann Sanjana in ihrer Freude nicht bremsen. „Neu geboren, ich bin wie neu geboren“, singt sie zu einer bekannten Melodie aus einem indischen Bollywoodfilm. „Komm tanzt mit mir und lasst uns feiern.“

Sanjana tanzt im Zeenat-Club im Osten Delhis. Zeenat bedeutet übersetzt Schönheit, Anmut. Doch das Gebäude ist eher unscheinbar, versteckt an einer schmalen, eng verwinkelten Seitengasse im Stadtteil Khajoori Khas. Am Eingang hängt lediglich ein kleines Schild. Man will nicht auffallen. „Die Nachbarschaft hat sich inzwischen an uns gewöhnt“, sagt Anjan Joshi, Leiter des Zeenat-Clubs. „Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, es gibt zu viele Vorurteile gegen uns.“

Weibliche Seelen in männlichen Körpern

Drinnen sind die Wände rosa gestrichen, auf dem Boden sitzen Sanjanas Freundinnen, sie haben einen kleinen Kreis gebildet, trommeln und klatschen zur Musik. Sie alle sind Transgender, Hijras, wie sie in Indien genannt werden, weibliche Seelen in männlichen Körpern. Auf den Straßen Delhis werden sie verachtet, verspottet, oft auch missbraucht. Doch hier in der Obhut der Nichtregierungsorganisation Space (Society for Peoples’ Awareness, Care & Empowerment) fühlen sie sich sicher.

Hier werden sie in juristischen Fragen beraten, gesundheitlich untersucht und können vor allem ihrer Freude freien Lauf lassen: Vor wenigen Wochen hat der Oberste Gerichtshof in Delhi offiziell die Existenz eines „dritten Geschlechts“ in Indien anerkannt. „Es ist das Recht eines jeden Menschen, sein Geschlecht frei zu wählen“, begründeten die Richter ihre Entscheidung.

Zwei bis drei Millionen Hijras leben in Indien. Eine von ihnen ist Sanjana. Sie ist 28 Jahre alt und stammt aus dem indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Als sie vor 13 Jahren in die indische Hauptstadt kam, kannte sie niemanden. Keiner wollte etwas mit ihr zu tun haben, weil sie eine Hijra ist. Nun sitzt sie auf dem kleinen Sofa im Zeenat-Club und erzählt von ihrem bisherigen Leben - von einer Zeit, als sie noch Sanju hieß und der ersehnte Junge ihrer Eltern war.
Doch schon als kleiner Junge wollte sie nie mit den anderen Jungs aus der Nachbarschaft spielen, Cricket interessierte sie nicht, sondern Puppen. Statt dunkler Stoffhosen trug sie lieber farbenfrohe Saris, sie kochte zu Hause für die ganze Familie und kümmerte sich um den Haushalt. „Ich war anders, wusste lange Zeit aber nicht, was es war.“

Im Alter von 14 Jahren suchte sie das Gespräch mit ihren Eltern. Doch die reagierten mit Härte. Sie sei krank und müsse daher zu Hause bleiben. Sie nannten sie eine Schande für die Familie und verboten ihr, weiter zur Schule zu gehen. Zu Hause, so hofften die Eltern, käme ihr Kind sicherlich wieder zur Vernunft. Doch als Sanjana sagte, sie sei eigentlich eine Frau, jagten die Eltern sie aus dem Haus. Im Grunde hörte Sanjana in jenem Moment auf zu existieren.

Bislang hatten Hijras in Indien keinen Geschlechtsstatus und bekamen daher keine offiziellen Dokumente wie einen Führerschein oder Pass. Für einen solchen Ausweis hätten sie sich zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht entscheiden müssen. Wer sich nicht in eine der beiden Kategorien pressen lassen wollte, existierte für die indischen Behörden nicht.

Die Hijras umgibt ein Aberglaube


Sanjana verließ ihr Heimatdorf und kam nach Delhi, doch auch in der indischen Hauptstadt traf sie auf Vorurteile, auf Missachtung und Hass. „Die Leute grölen, sie schreien und pfeifen uns hinterher, wenn wir die Straße überqueren. Es ist wie ein Spießrutenlauf.“ Viele Krankenhäuser lehnen es ab, Transsexuelle zu behandeln. Sie dürfen kein Eigentum besitzen, nicht heiraten oder ihre Identität in ihrem Pass oder Führerschein vermerken. „Wir sind ganz normale Menschen. Und um hübsch zu sein, müssen wir auch mal in den Salon. Aber keiner bedient uns“, erzählt Sanjana. Eigentlich wollte die Achtundzwanzigjährige Sängerin werden oder Tänzerin in einem Bollywoodfilm.

Doch niemand wollte mit ihr zusammenarbeiten. Einmal hätte es dann doch beinahe geklappt. Sie hatte an einem Gesangswettbewerb teilgenommen und es in die nächste Runde geschafft. Doch als sie am nächsten Tag zum Vorsingen kam und sagte, sie sei weder männlich noch weiblich, wurde sie sofort weggeschickt.

Viele Inder machen sich lustig über die „geschlechtslosen“ Menschen, doch die meisten haben Angst vor den Hijras. Der Aberglaube, der die Hijras umgibt, ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits bezahlt man sie, um sich durch ihren Segen Pech und Unglück vom Leib zu halten. Hijras tauchen daher immer wieder unangemeldet bei Geburten und Hochzeitsfeiern auf, bei Firmengründungen und Einzügen in ein neues Zuhause.

Der soziale Abstieg begann im 19. Jahrhundert

Sie versprechen - gegen ein entsprechendes Entgelt - Unglück fernzuhalten. Doch andererseits wird ihnen deshalb auch eine Verbindung zur Hexerei nachgesagt. Und wehe, wenn der Geldbetrag bei einer Hochzeitsfeier aus Sicht der Hijras nicht angemessen ist. Dann heben sie schnell mal ihren Rock hoch, denn fromme Hindus sind überzeugt, dass der Anblick der kastrierten männlichen Genitalien sie mit einem Fluch belegt, der sieben Jahre anhält.

Das war nicht immer so. Früher waren Indiens Hijras angesehen und respektiert. Schon in den frühen Hindu-Schriften wie dem Ramayana und dem Mahabharata werden sie erwähnt. In Zeiten der Mogulherrscher wachten sie als Geschlechtslose meist über den Harem des jeweiligen Herrschers. Sie hatten einflussreiche Positionen inne und genossen Respekt. Ihre Geschlechtslosigkeit befreie sie von sexuellen Trieben, so die damals gängige Überzeugung, ihre Entscheidungen fielen darum rationaler aus. Doch diese Zeiten sind lange vorbei.

Ihr sozialer Abstieg begann im 19. Jahrhundert als die britischen Kolonialherren die Transgendergemeinschaft als „Kriminelle“ deklarierten, die allesamt „süchtig nach schweren Verbrechen“ seien. Sie wurden verhaftet, weil sie Kleider des vermeintlich falschen Geschlechts trugen, weil sie in der Öffentlichkeit tanzten und musizierten.

„Eine Frage der Menschenrechte“

Schritt für Schritt wurden die Hijras an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Mittlerweile sind sie weitgehend aus dem indischen Alltag verschwunden. Von der Öffentlichkeit missachtet, von der Polizei oft misshandelt, verstecken sie sich meist in Parks und an Bahnhöfen. Viele von ihnen leben in bitterer Armut, sind aufs Betteln angewiesen oder verdingen sich als Prostituierte.

„Die Anerkennung von Transsexualität als drittes Geschlecht ist kein soziales oder mediales Thema, sondern vielmehr eine Frage der Menschenrechte“, sagte Richter Panicker Radhakrishnan nach dem Urteil. „Transsexuelle sind ebenso Bürger Indiens. Wir müssen ihnen die gleiche Rechte und Möglichkeiten zugestehen wie anderen auch, ungeachtet ihrer Kaste, Religion oder ihres Geschlechts.“

„Ich bin überglücklich“, sagt Anjan Joshi. Joshi ist schwul und erlebt täglich am eigenen Leib die Diskriminierung von Minderheiten. Auch deshalb hat er 2012 den Zeenat-Club mitgegründet, als Rückzugsgebiet für Lesben, Schwule und Transgender. Die Entscheidung des Obersten Gerichts sei ein sehr gutes Urteil für Indien, meint Joshi. Denn der Fortschritt einer Gesellschaft ist aus seiner Sicht eng verbunden mit den Rechten jedes Einzelnen.

Karuna Nundy sieht das ähnlich und erkennt in dem Urteil eine „wegweisende Entscheidung“ für die indische Gesellschaft. Aus Sicht der Richterin am Supreme Court in Delhi ist es ein Meilenstein in der Geschichte, dass in Indien das „dritte Geschlecht“ offiziell anerkannt wird. „Über Generationen hinweg wurden diese Menschen diskriminiert und kriminalisiert.“ Endlich habe diese Fehlentwicklung nun ein Ende.

Die Richter haben in ihrem Urteilsspruch klar definiert, wer mit der Bezeichnung „drittes Geschlecht“ gemeint ist: Alle, die in ein Geschlecht hineingeboren werden, später aber durch Operation, Kleidung oder Make-up die äußerlichen Merkmale des anderen Geschlechts angenommen haben oder die schlicht das Leben des anderen Geschlechts führen, gelten von nun an als „drittes Geschlecht“ - mit allen Rechten. Hijras sind von nun an berechtigt, sich an Schulen und Universitäten einzuschreiben.

Eine landesweite Aufklärungskampagne

Sie haben Anspruch auf die staatlichen Wohlfahrtsprogramme, sind Teil des Gesundheitssystems und dürfen auch an allen anderen Unterstützungsmaßnahmen der Regierung für „sozial und wirtschaftlich rückständige Minderheiten“ teilnehmen. Mit Hilfe fester Quoten sollen Hijras bei Anstellungen im öffentlichen Dienst und der Vergabe von Studienplätzen künftig sogar bevorzugt werden. Zudem soll sich das Gesundheitssystem mit ihren speziellen medizinischen Besonderheiten vertraut machen. Und eine landesweite Aufklärungskampagne soll das Stigma aus der Welt schaffen, das Hijras seit vielen Jahren umgibt.

Das alles sei wünschenswert, sagt Nundy. Doch weiß die Richterin um die Begrenztheit solcher Richtlinien. „Ein Gesetz kann lediglich ein erster Schritt sein“, meint die 38 Jahre alte Juristin. Bereits 2009 hatte die indische Regierung Transgender ein kleines Stück Anerkennung zugestanden. Damals wurde ihnen erlaubt, auf den Stimmzetteln neben „männlich“ und „weiblich“ auch das Feld „anderes“ anzukreuzen.

Gleichgeschlechtlicher Sex ist in Indien verboten
Doch bei den Parlamentswahlen, die bis Mitte Mai in mehreren Phasen abgehalten wurden, hatten sich von den rund drei Millionen Hijras in Indien lediglich 26.000 als „drittes Geschlecht“ registrieren lassen. Zudem weißt Nundy auf Mängel in der Entscheidung des Obersten Gerichts hin: Die Richter haben in ihrem Urteil explizit festgehalten, dass die neue Geschlechtskategorie nur für Hijras gelte, nicht aber für Schwule, Lesben oder Bisexuelle. In Indien ist dies eine wichtige Einschränkung.

Denn Paragraph 377 des indischen Strafgesetzbuches beschreibt homosexuelle Liebe als „Geschlechtsverkehr gegen die Ordnung der Natur“. Gleichgeschlechtlicher Sex ist in Indien daher verboten und kann mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Der Paragraph stammt aus der britischen Kolonialzeit, doch erst vor wenigen Monaten hat das Oberste Gericht in Delhi besagten Paragraph für rechtens erklärt. „Hier haben wir ein riesiges Problem, dass ebenfalls dringend gelöst werden muss“, sagt Nundy. Die Juristin hofft jedoch, dass von dem Hijra-Urteil eine positive Wirkung ausgehen könnte. „Aus meiner Sicht hat das aktuelle Urteil das Potential, den Paragraphen 377 zu zerstören.“

„Das wird nicht genügen“

Derweil ist Sanjanas beste Freundin Bebo in den Zeenat-Club gekommen. Sie beide haben eine ähnliche Geschichte erlebt, beide wurden wegen ihres Geschlechts von ihren Familien als Schande beschimpft und verstoßen. Seit sich Sanjana und Flora vor einigen Jahren in Delhi kennengelernt haben, sind sie wie ein Herz und eine Seele, bei fast allen Themen haben sie eine ähnliche Meinung. Doch wenn sie über das aktuelle Urteil und dessen Auswirkungen auf ihr eigenes Leben sprechen, blicken sie unterschiedlich in die Zukunft: Während Sanjana tanzend das Urteil des Obersten Gerichtshofs feiert, sitzt Flora nachdenklich auf einem Plastikstuhl in der Ecke. „Sanjana tanzt und tanzt. Doch das wird nicht genügen.“

Flora glaubt nicht, dass ein richterliches Urteil ausreicht, um die Situation der Hijras in Indien nachhaltig zu verändern. „Ein Richterspruch kann nicht das beenden, was wir täglich auf den Straßen Delhis erleben. Die Diskriminierung wird so schnell nicht vorbeigehen.“ Richter seien zwar mächtig und Gesetze sehr wichtig, doch gesellschaftliche Akzeptanz könne nicht verordnet werden, sie muss von den Menschen in der Gesellschaft kommen. „Solange uns die eigenen Eltern verstoßen, wie sollen uns da fremde Menschen akzeptieren?“


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