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Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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In Zusammenarbeit mit der Antidiskriminierungsstelle des
Bundes
Transgender
in Indien
Weder
er noch sie!
In Indien gibt es mehrere Millionen
Hijras, weibliche Seelen in männlichen Körpern. Auf den Straßen Delhis werden
sie verachtet, verspottet, missbraucht. Seit kurzem sind sie offiziell als
„drittes Geschlecht“ anerkannt. Ob sich dadurch viel ändert?
Transgender in Indien: Weder er noch sie
Sanjana reißt die Arme in die Luft. Sie klatscht in
die Hände und dreht sich schwungvoll um die eigene Achse. Wild wirbeln die
Enden ihres grünen Sari durch die stickige Luft des kleinen Zimmers. Es ist
drückend heiß in Indiens Hauptstadt Delhi, doch das kann Sanjana in ihrer
Freude nicht bremsen. „Neu geboren, ich bin wie neu geboren“, singt sie zu
einer bekannten Melodie aus einem indischen Bollywoodfilm. „Komm tanzt mit mir
und lasst uns feiern.“
Sanjana tanzt im Zeenat-Club im Osten Delhis. Zeenat
bedeutet übersetzt Schönheit, Anmut. Doch das Gebäude ist eher unscheinbar,
versteckt an einer schmalen, eng verwinkelten Seitengasse im Stadtteil Khajoori
Khas. Am Eingang hängt lediglich ein kleines Schild. Man will nicht auffallen.
„Die Nachbarschaft hat sich inzwischen an uns gewöhnt“, sagt Anjan Joshi,
Leiter des Zeenat-Clubs. „Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, es gibt zu viele
Vorurteile gegen uns.“
Weibliche Seelen in männlichen Körpern
Drinnen sind die Wände rosa gestrichen, auf dem Boden
sitzen Sanjanas Freundinnen, sie haben einen kleinen Kreis gebildet, trommeln
und klatschen zur Musik. Sie alle sind Transgender, Hijras, wie sie in Indien
genannt werden, weibliche Seelen in männlichen Körpern. Auf den Straßen Delhis
werden sie verachtet, verspottet, oft auch missbraucht. Doch hier in der Obhut
der Nichtregierungsorganisation Space (Society for Peoples’ Awareness, Care
& Empowerment) fühlen sie sich sicher.
Hier werden sie in juristischen Fragen beraten,
gesundheitlich untersucht und können vor allem ihrer Freude freien Lauf lassen:
Vor wenigen Wochen hat der Oberste Gerichtshof in Delhi offiziell die Existenz
eines „dritten Geschlechts“ in Indien anerkannt. „Es ist das Recht eines jeden
Menschen, sein Geschlecht frei zu wählen“, begründeten die Richter ihre
Entscheidung.
Zwei bis drei Millionen Hijras leben in Indien. Eine
von ihnen ist Sanjana. Sie ist 28 Jahre alt und stammt aus dem indischen
Bundesstaat Uttar Pradesh. Als sie vor 13 Jahren in die indische Hauptstadt
kam, kannte sie niemanden. Keiner wollte etwas mit ihr zu tun haben, weil sie
eine Hijra ist. Nun sitzt sie auf dem kleinen Sofa im Zeenat-Club und erzählt
von ihrem bisherigen Leben - von einer Zeit, als sie noch Sanju hieß und der
ersehnte Junge ihrer Eltern war.
Doch schon als kleiner Junge wollte sie nie mit den
anderen Jungs aus der Nachbarschaft spielen, Cricket interessierte sie nicht,
sondern Puppen. Statt dunkler Stoffhosen trug sie lieber farbenfrohe Saris, sie
kochte zu Hause für die ganze Familie und kümmerte sich um den Haushalt. „Ich
war anders, wusste lange Zeit aber nicht, was es war.“
Im Alter von 14 Jahren suchte sie das Gespräch mit
ihren Eltern. Doch die reagierten mit Härte. Sie sei krank und müsse daher zu
Hause bleiben. Sie nannten sie eine Schande für die Familie und verboten ihr,
weiter zur Schule zu gehen. Zu Hause, so hofften die Eltern, käme ihr Kind
sicherlich wieder zur Vernunft. Doch als Sanjana sagte, sie sei eigentlich eine
Frau, jagten die Eltern sie aus dem Haus. Im Grunde hörte Sanjana in jenem
Moment auf zu existieren.
Bislang hatten Hijras in Indien keinen
Geschlechtsstatus und bekamen daher keine offiziellen Dokumente wie einen
Führerschein oder Pass. Für einen solchen Ausweis hätten sie sich zwischen dem
männlichen und dem weiblichen Geschlecht entscheiden müssen. Wer sich nicht in
eine der beiden Kategorien pressen lassen wollte, existierte für die indischen
Behörden nicht.
Die Hijras umgibt ein Aberglaube
Sanjana verließ ihr Heimatdorf und kam nach Delhi,
doch auch in der indischen Hauptstadt traf sie auf Vorurteile, auf Missachtung
und Hass. „Die Leute grölen, sie schreien und pfeifen uns hinterher, wenn wir
die Straße überqueren. Es ist wie ein Spießrutenlauf.“ Viele Krankenhäuser
lehnen es ab, Transsexuelle zu behandeln. Sie dürfen kein Eigentum besitzen,
nicht heiraten oder ihre Identität in ihrem Pass oder Führerschein vermerken.
„Wir sind ganz normale Menschen. Und um hübsch zu sein, müssen wir auch mal in
den Salon. Aber keiner bedient uns“, erzählt Sanjana. Eigentlich wollte die
Achtundzwanzigjährige Sängerin werden oder Tänzerin in einem Bollywoodfilm.
Doch niemand wollte mit ihr zusammenarbeiten. Einmal
hätte es dann doch beinahe geklappt. Sie hatte an einem Gesangswettbewerb
teilgenommen und es in die nächste Runde geschafft. Doch als sie am nächsten
Tag zum Vorsingen kam und sagte, sie sei weder männlich noch weiblich, wurde
sie sofort weggeschickt.
Viele Inder machen sich lustig über die
„geschlechtslosen“ Menschen, doch die meisten haben Angst vor den Hijras. Der
Aberglaube, der die Hijras umgibt, ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits
bezahlt man sie, um sich durch ihren Segen Pech und Unglück vom Leib zu halten.
Hijras tauchen daher immer wieder unangemeldet bei Geburten und Hochzeitsfeiern
auf, bei Firmengründungen und Einzügen in ein neues Zuhause.
Der soziale Abstieg begann im 19. Jahrhundert
Sie versprechen - gegen ein entsprechendes Entgelt -
Unglück fernzuhalten. Doch andererseits wird ihnen deshalb auch eine Verbindung
zur Hexerei nachgesagt. Und wehe, wenn der Geldbetrag bei einer Hochzeitsfeier
aus Sicht der Hijras nicht angemessen ist. Dann heben sie schnell mal ihren
Rock hoch, denn fromme Hindus sind überzeugt, dass der Anblick der kastrierten
männlichen Genitalien sie mit einem Fluch belegt, der sieben Jahre anhält.
Das war nicht immer so. Früher waren Indiens Hijras
angesehen und respektiert. Schon in den frühen Hindu-Schriften wie dem Ramayana
und dem Mahabharata werden sie erwähnt. In Zeiten der Mogulherrscher wachten
sie als Geschlechtslose meist über den Harem des jeweiligen Herrschers. Sie
hatten einflussreiche Positionen inne und genossen Respekt. Ihre
Geschlechtslosigkeit befreie sie von sexuellen Trieben, so die damals gängige
Überzeugung, ihre Entscheidungen fielen darum rationaler aus. Doch diese Zeiten
sind lange vorbei.
Ihr sozialer Abstieg begann im 19. Jahrhundert als die
britischen Kolonialherren die Transgendergemeinschaft als „Kriminelle“
deklarierten, die allesamt „süchtig nach schweren Verbrechen“ seien. Sie wurden
verhaftet, weil sie Kleider des vermeintlich falschen Geschlechts trugen, weil
sie in der Öffentlichkeit tanzten und musizierten.
„Eine Frage der Menschenrechte“
Schritt für Schritt wurden die Hijras an den Rand der
Gesellschaft gedrängt. Mittlerweile sind sie weitgehend aus dem indischen
Alltag verschwunden. Von der Öffentlichkeit missachtet, von der Polizei oft
misshandelt, verstecken sie sich meist in Parks und an Bahnhöfen. Viele von
ihnen leben in bitterer Armut, sind aufs Betteln angewiesen oder verdingen sich
als Prostituierte.
„Die Anerkennung von Transsexualität als drittes
Geschlecht ist kein soziales oder mediales Thema, sondern vielmehr eine Frage
der Menschenrechte“, sagte Richter Panicker Radhakrishnan nach dem Urteil.
„Transsexuelle sind ebenso Bürger Indiens. Wir müssen ihnen die gleiche Rechte
und Möglichkeiten zugestehen wie anderen auch, ungeachtet ihrer Kaste, Religion
oder ihres Geschlechts.“
„Ich bin überglücklich“, sagt Anjan Joshi. Joshi ist
schwul und erlebt täglich am eigenen Leib die Diskriminierung von Minderheiten.
Auch deshalb hat er 2012 den Zeenat-Club mitgegründet, als Rückzugsgebiet für
Lesben, Schwule und Transgender. Die Entscheidung des Obersten Gerichts sei ein
sehr gutes Urteil für Indien, meint Joshi. Denn der Fortschritt einer
Gesellschaft ist aus seiner Sicht eng verbunden mit den Rechten jedes
Einzelnen.
Karuna Nundy sieht das ähnlich und erkennt in dem
Urteil eine „wegweisende Entscheidung“ für die indische Gesellschaft. Aus Sicht
der Richterin am Supreme Court in Delhi ist es ein Meilenstein in der Geschichte,
dass in Indien das „dritte Geschlecht“ offiziell anerkannt wird. „Über
Generationen hinweg wurden diese Menschen diskriminiert und kriminalisiert.“
Endlich habe diese Fehlentwicklung nun ein Ende.
Die Richter haben in ihrem Urteilsspruch klar definiert,
wer mit der Bezeichnung „drittes Geschlecht“ gemeint ist: Alle, die in ein
Geschlecht hineingeboren werden, später aber durch Operation, Kleidung oder
Make-up die äußerlichen Merkmale des anderen Geschlechts angenommen haben oder
die schlicht das Leben des anderen Geschlechts führen, gelten von nun an als
„drittes Geschlecht“ - mit allen Rechten. Hijras sind von nun an berechtigt,
sich an Schulen und Universitäten einzuschreiben.
Eine landesweite Aufklärungskampagne
Sie haben Anspruch auf die staatlichen
Wohlfahrtsprogramme, sind Teil des Gesundheitssystems und dürfen auch an allen
anderen Unterstützungsmaßnahmen der Regierung für „sozial und wirtschaftlich
rückständige Minderheiten“ teilnehmen. Mit Hilfe fester Quoten sollen Hijras
bei Anstellungen im öffentlichen Dienst und der Vergabe von Studienplätzen
künftig sogar bevorzugt werden. Zudem soll sich das Gesundheitssystem mit ihren
speziellen medizinischen Besonderheiten vertraut machen. Und eine landesweite
Aufklärungskampagne soll das Stigma aus der Welt schaffen, das Hijras seit
vielen Jahren umgibt.
Das alles sei wünschenswert, sagt Nundy. Doch weiß die
Richterin um die Begrenztheit solcher Richtlinien. „Ein Gesetz kann lediglich
ein erster Schritt sein“, meint die 38 Jahre alte Juristin. Bereits 2009 hatte
die indische Regierung Transgender ein kleines Stück Anerkennung zugestanden.
Damals wurde ihnen erlaubt, auf den Stimmzetteln neben „männlich“ und
„weiblich“ auch das Feld „anderes“ anzukreuzen.
Gleichgeschlechtlicher Sex ist in Indien verboten
Doch bei den Parlamentswahlen, die bis Mitte Mai in
mehreren Phasen abgehalten wurden, hatten sich von den rund drei Millionen
Hijras in Indien lediglich 26.000 als „drittes Geschlecht“ registrieren lassen.
Zudem weißt Nundy auf Mängel in der Entscheidung des Obersten Gerichts hin: Die
Richter haben in ihrem Urteil explizit festgehalten, dass die neue
Geschlechtskategorie nur für Hijras gelte, nicht aber für Schwule, Lesben oder
Bisexuelle. In Indien ist dies eine wichtige Einschränkung.
Denn Paragraph 377 des indischen Strafgesetzbuches
beschreibt homosexuelle Liebe als „Geschlechtsverkehr gegen die Ordnung der
Natur“. Gleichgeschlechtlicher Sex ist in Indien daher verboten und kann mit
bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Der Paragraph stammt aus der
britischen Kolonialzeit, doch erst vor wenigen Monaten hat das Oberste Gericht
in Delhi besagten Paragraph für rechtens erklärt. „Hier haben wir ein riesiges
Problem, dass ebenfalls dringend gelöst werden muss“, sagt Nundy. Die Juristin
hofft jedoch, dass von dem Hijra-Urteil eine positive Wirkung ausgehen könnte.
„Aus meiner Sicht hat das aktuelle Urteil das Potential, den Paragraphen 377 zu
zerstören.“
„Das wird nicht genügen“
Derweil ist Sanjanas beste Freundin Bebo in den Zeenat-Club
gekommen. Sie beide haben eine ähnliche Geschichte erlebt, beide wurden wegen
ihres Geschlechts von ihren Familien als Schande beschimpft und verstoßen. Seit
sich Sanjana und Flora vor einigen Jahren in Delhi kennengelernt haben, sind
sie wie ein Herz und eine Seele, bei fast allen Themen haben sie eine ähnliche
Meinung. Doch wenn sie über das aktuelle Urteil und dessen Auswirkungen auf ihr
eigenes Leben sprechen, blicken sie unterschiedlich in die Zukunft: Während
Sanjana tanzend das Urteil des Obersten Gerichtshofs feiert, sitzt Flora
nachdenklich auf einem Plastikstuhl in der Ecke. „Sanjana tanzt und tanzt. Doch
das wird nicht genügen.“
Flora glaubt nicht, dass ein richterliches Urteil ausreicht,
um die Situation der Hijras in Indien nachhaltig zu verändern. „Ein
Richterspruch kann nicht das beenden, was wir täglich auf den Straßen Delhis
erleben. Die Diskriminierung wird so schnell nicht vorbeigehen.“ Richter seien
zwar mächtig und Gesetze sehr wichtig, doch gesellschaftliche Akzeptanz könne
nicht verordnet werden, sie muss von den Menschen in der Gesellschaft kommen.
„Solange uns die eigenen Eltern verstoßen, wie sollen uns da fremde Menschen
akzeptieren?“
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