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Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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Transsexuelle leiden unter dem Gefühl, im falschen Körper zu sein. Manche leben damit jahrzehntelang. Bis es nicht mehr geht.
Transsexuelle Auf halber Strecke gewendet
Transsexuelle leiden unter dem Gefühl, im falschen Körper zu
sein. Manche leben damit jahrzehntelang. Bis es nicht mehr geht.
Mann oder Frau oder...? Soziale Netzwerke wie Facebook
bieten inzwischen mehr als 60 Optionen an, sich geschlechtlich zu definieren.
Die Versammlung des Karnevalsvereins war fast beendet, als
sich Lars Nehrig meldete. „Ich möchte noch was sagen.“ Der Entschluss war
spontan. Jetzt ist der richtige Moment, es zu tun, dachte er. Nehrig stand auf
und ging, beäugt von 400 Mitgliedern, durch die Stuhlreihen nach vorne. Auf
seinem Weg hatte er Zweifel, Herzklopfen. Wie sollte er am besten anfangen?
Nehrigs Eltern, Freunde und Familie wussten es schon. Doch
das hier, das war etwas anderes, etwas viel Schwierigeres, es würde sein
öffentliches Coming-Out werden. Bevor Gerüchte entstanden, wollte er den
Menschen seine Situation erklären. Vorne an der Bühne drehte er sich zum
Publikum, überblickte von dort den Saal. Nehrig hob an, stockte, dann sagte er
schließlich allen, was mit ihm los ist: „Ich bin transsexuell.“ Von nun an
werde er als Frau leben und nicht mehr Lars, sondern Lara heißen.
Die erste Krise mit 16 Jahren
Das war vor zehn Jahren. Wenn Lara Nehrig heute über
Transsexualität redet, spricht sie immer wieder von „seinen Weg finden“. Das
Bild beschreibt auch ihre Lebensgeschichte. Bis zu ihrem 40. Lebensjahr hat
Nehrig als Mann gelebt, war verheiratet, hatte zwei Kinder. Dabei habe sie schon
vor der Pubertät gefühlt, dass etwas mit ihr nicht stimme. Sie habe das
„Empfinden gehabt, im falschen Körper auf die Welt gekommen zu sein“. Mit 16
Jahren erlebte sie - damals noch als Lars - die erste große Krise. Nehrig brach
die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus.
Doch auf eigene Faust konnte sie sich nicht durchschlagen,
dafür reichte das Geld nicht. Auch fand sie keine Ansprechpartner für ihr
Anliegen. In den Siebzigern und Achtzigern war Transsexualität kein Thema.
Akzeptanz gab es kaum, sagt Nehrig, am wenigsten in der kleinen
Dorfgemeinschaft, in der sie aufgewachsen war.
Der falsche Körper ist noch sichtbar
Sie versuchte, ihr Unwohlsein zu verdrängen. Wenn andere
Männer das „Mann-Sein“ zu Wege brächten, müsste sie das auch irgendwie
schaffen, war ihr Gedanke. „Mann-Sein“, das hieß: heiraten, Kinder kriegen,
hart arbeiten, die Familie versorgen, keine Rücksicht auf sich selbst nehmen.
Die Jahre verbrachte sie mit dem Leiden unter der Verdrängung und dem Wunsch,
endlich zu sich selbst zu stehen. In der Mitte des Lebens habe sie schließlich
das Gefühl gehabt, jetzt sei eine der letzten Möglichkeiten gekommen, in ihrem
gefühlten Geschlecht zu leben.
Nehrig wohnt mittlerweile in einer kleinen Stadt im Norden
Frankfurts. Ihr Name wurde für diesen Artikel geändert, weil sie nicht
identifiziert werden möchte. Ihre Vergangenheit im anderen Geschlecht ist auch
zehn Jahre nach der Hormontherapie noch sichtbar. Zwar hat sie Brüste und lange
blonde Haare, trägt Lippenstift und Make-up. Und wenn sie lacht, wirft sie den
Kopf nach hinten. Doch ihre Schultern sind auffallend breit für eine Frau,
Hände und Arme sind sehr kräftig.
Wie das Thema öffentlich wurde
Seit Nehrigs Jugend hat sich das Bild von Transsexuellen in
der Gesellschaft gewandelt. „Transgender“ ist längst geläufig als Oberbegriff
für nichteindeutige geschlechtliche Zuweisungen und für Menschen, die sich
nicht über klassische Geschlechterrollen bestimmen wollen.
Das Internet, Menschenrechtsgruppen und Künstler aus der
Popkultur haben das Thema in die Öffentlichkeit gebracht. Die Sängerin Laura
Jane Grace, geboren als Tom Gabel, veröffentlichte 2013 mit ihrer Band „Against
Me!“ das Album „Transgender Dysphoria Blues“. Laverne Cox aus der
amerikanischen Fernsehserie „Orange Is the New Black“ wurde in diesem Jahr als
erste bekennend transsexuelle Schauspielerin für den amerikanischen
Fernsehpreis Emmy nominiert. Und Anfang September erst erweiterte Facebook die
Möglichkeiten für deutsche Nutzer, Geschlechtsangaben zu machen, um 60
Optionen, darunter sind auch viele Wahlmöglichkeiten für Transsexuelle.
Umdenken in der Psychologie
Lara Nehrig bezeichnet sich als „transident“. Mit dem
Begriff will sie verdeutlichen, dass es sich nicht um eine sexuelle Vorliebe
handelt, sondern um eine Identitätsstörung. Transidentität ist definiert durch
die dauerhafte Gewissheit, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen,
durch das Unbehagen mit den angeborenen körperlichen Merkmalen und den Wunsch,
im anderen Geschlecht leben zu wollen.
In aktuellen Klassifikationssysteme von psychischen
Krankheiten ist auch nicht mehr von „Transsexualität“, sondern von Geschlechtsdysphorie
die Rede; die Bezeichnung rückt das Leiden der Betroffenen in den Vordergrund
und nicht die Transidentität als Störungsbild, wie Sophinette Becker erklärt.
Die Psychotherapeutin hat die sexualmedizinische Ambulanz der Frankfurter Uniklinik
bis zu deren Schließung im Jahr 2011 geleitet. Ende der neunziger Jahre war sie
an den Leitlinien für die „Standards der Begutachtung und Behandlung von
Transsexuellen“ entscheidend beteiligt.
Wie die Behandlung aussieht
Wesentlich für die Behandlung ist laut Becker die Frage, ob
jemand mit dem Leben im neuen Geschlecht dauerhaft glücklicher wird.
Erforderlich sei eine „Stück für Stück erfolgende Diagnose“. Zum einen wegen
der gravierenden Konsequenzen im Fall einer Fehldiagnose - nicht nur die Operationen,
auch manche Folgen der Hormonbehandlung wie Stimmbruch und Behaarung sind
unumkehrbar. Zum anderen aufgrund der Unterschiedlichkeit der Fälle. Becker hat
Transidente betreut, die schon Jahre vor Therapiebeginn ein Leben in der
anderen Geschlechterrolle führten, ohne dass sie Hormone genommen hätten.
Andere wiederum täten sich schon mit dem Outing schwer und hätten anfangs noch
starke Unsicherheiten und innere Konflikte.
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen sieht vor, dass
Patienten mindestens ein Jahr lang in psychologische Behandlung gehen, bevor
sie mit einer Hormonbehandlung beginnen dürfen. Bis zur Operation sollen
mindestens eineinhalb Jahre vergehen. Außerdem müssen die Patienten einen
Alltagstest absolvieren. Darin sollen sie das neue Leben im anderen Geschlecht
erproben, sich also in der Freizeit und im Alltag als Mann oder Frau anziehen
und so verhalten, obwohl der Körper noch unverändert ist.
„Pervers oder krank“
„Man fühlt sich in dem Moment verkleidet“, sagt Lara Nehrig.
Wer das tue, müsse sich darüber im Klaren sein, dass man auffalle, auch
beschimpft werde, dass die Nachbarn darüber redeten. Für sie war es eine
besonders schwierige Zeit: „Den Weg gehen nur diejenigen, die wirklich einen
hohen Leidensdruck haben.“ Hormontherapie und Geschlechtsumwandlung fühlten
sich an „wie eine zweite Pubertät“. Das scheinen manche wörtlich zu nehmen.
„Viele machen den Fehler und haben ein Frauenvorbild wie eine Zwanzigjährige“,
sagt Nehrig. Eine Transidente, die damals in ihre Nachbarschaft gezogen ist,
stand eines Morgens in Minirock und High Heels, geschminkt wie beim
Travestie-Theater, vor ihrer Tür.
Sich in der neuen Rolle zurechtzufinden ist eine der letzten
Hürden auf dem Weg in die selbstempfundene Normalität. Für viele ist es jedoch
schon ein Problem, ganz am Anfang einen geeigneten Ansprechpartner zu finden.
„Der durchschnittliche Psychotherapeut oder Psychiater hat in seiner Ausbildung
über Transsexualität nichts gelernt“, sagt Psychotherapeutin Becker. Fachkräfte
fänden sich im Rhein-Main-Gebiet selten.
Wer schnell Beratung und Hilfe sucht, findet im Internet
Gleichgesinnte oder nutzt die Unterstützung lokaler Selbsthilfegruppen. In
Frankfurt leitet Sozialpädagogin Gitta Schwerberger den Transgender
Freundeskreis. Sie organisiert regelmäßig Treffen. Dort können sich die
Mitglieder austauschen und Beratung suchen. Schwerberger sagt, der
Freundeskreis gehöre oft zu den ersten Stellen, die das Anliegen ernst nähmen.
Viele Transidente hätten Selbstzweifel und würden von ihrem Umfeld hören, sie
seien pervers oder krank. Bei manchen führe das Leiden zum psychischen
Zusammenbruch oder gar zur Selbstverstümmelung.
Probleme in der Berufswelt
Nehrig und sie kennen sich über das Internet. In
Schwerbergers Gruppe sind die meisten Mitglieder Mann-zu-Frau-Transidente, die
Mehrheit ist älter als 40 Jahre. Es gebe einen großen Unterschied zwischen den
Altersgruppen, sagt Schwerberger. Viele Jüngere würden eher zu sich stehen,
auch dank der Aufklärung in Internet und Öffentlichkeit über das Thema.
Ältere Transidente, die bisher vor einer Behandlung und
einem Outing zurückgeschreckt sind, haben ganz andere Hürden zu überwinden.
Viele gehen mit dem Bekenntnis zu ihrer Transidentität beruflich ein hohes
Risiko ein. Nach Schwerbergers Worten kam mehr als die Hälfte ihrer
Gruppenmitglieder kurz nach dem Outing in Schwierigkeiten. Manche kündigten
freiwillig, andere wurden versetzt oder entlassen. Das hängt nach Schwerbergers
Erfahrung stark von der Branche ab. Bei der Arbeit mit Kunden und in großen,
sich seriös gebenden Unternehmen sei die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu
werden, höher als in kleineren Betrieben. Dort kenne sie positive Beispiele.
Ein ehemals männlicher Lastwagenfahrer ist mittlerweile als Frau im selben
Unternehmen tätig wie vor dem Coming-out und erhält von den Kollegen volle
Unterstützung. Die Akzeptanz in der Berufswelt sei im Laufe der Jahre ohnehin
gewachsen, sagt Schwerberger.
Lara hatte Glück
Ältere Transidente stehen vor allem privat vor einem
Umbruch. „Stellen Sie sich vor“, gibt die Sozialpädagogin zu bedenken, „Sie
sind die Frau, und Ihr Ehemann sitzt nach zehn bis fünfzehn Jahren Ehe vor
Ihnen am Frühstückstisch und sagt, ,Schatz, ich muss dir was sagen: Ich bin
transident. Das heißt, ich bin auch eine Frau, und ich muss das jetzt leben‘.“ Für
viele Paare ist das ein Scheidungsgrund. Auch die Beziehung zu Eltern, Kindern,
Verwandten und Freunden kann zerbrechen.
„Man hat natürlich auch eine Vergangenheit und sich ein
gewisses Leben aufgebaut“, sagt Lara Nehrig. Sie selbst sieht sich als eine der
wenigen Transidenten, die Glück gehabt haben mit dem Verlauf des Coming-outs.
Ihre beiden Kinder und ihre Eltern akzeptierten sie in ihrer neuen Identität.
Den Lebensunterhalt kann sie als selbständige IT-Fachkraft weiter bestreiten.
Und auch die Trennung von ihrer Frau geschah nicht unmittelbar als Folge des
Outings. Freunde habe sie nicht verloren, „eher Bekannte dazugewonnen, die das
Thema interessiert hat“.
Auch ihr Outing im Karnevalsverein verlief günstig: Viele
kamen nach der Sitzung zu ihr, stellten Fragen und plauderten am Tresen
darüber, was nun anstehe. Transidente würden von der Gesellschaft allgemein
aber nach wie vor nicht so toleriert, wie viele es sich wünschten, sagt Nehrig.
Am Ende wollten sie alle ein normales Leben führen wie jeder andere auch. „Das
Wesen eines Menschen ändert sich nicht dadurch, dass er seinen Körper dem
anpasst, was er schon immer gefühlt hat.“
Quelltext: http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/transsexuelle-auf-halber-strecke-gewendet-13230175.html
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