Donnerstag, 6. November 2014

Transsexuelle leiden unter dem Gefühl, im falschen Körper zu sein. Manche leben damit jahrzehntelang. Bis es nicht mehr geht.

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2014
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Transsexuelle leiden unter dem Gefühl, im falschen Körper zu sein. Manche leben damit jahrzehntelang. Bis es nicht mehr geht.

Transsexuelle Auf halber Strecke gewendet

Transsexuelle leiden unter dem Gefühl, im falschen Körper zu sein. Manche leben damit jahrzehntelang. Bis es nicht mehr geht.

Mann oder Frau oder...? Soziale Netzwerke wie Facebook bieten inzwischen mehr als 60 Optionen an, sich geschlechtlich zu definieren.
Die Versammlung des Karnevalsvereins war fast beendet, als sich Lars Nehrig meldete. „Ich möchte noch was sagen.“ Der Entschluss war spontan. Jetzt ist der richtige Moment, es zu tun, dachte er. Nehrig stand auf und ging, beäugt von 400 Mitgliedern, durch die Stuhlreihen nach vorne. Auf seinem Weg hatte er Zweifel, Herzklopfen. Wie sollte er am besten anfangen?
Nehrigs Eltern, Freunde und Familie wussten es schon. Doch das hier, das war etwas anderes, etwas viel Schwierigeres, es würde sein öffentliches Coming-Out werden. Bevor Gerüchte entstanden, wollte er den Menschen seine Situation erklären. Vorne an der Bühne drehte er sich zum Publikum, überblickte von dort den Saal. Nehrig hob an, stockte, dann sagte er schließlich allen, was mit ihm los ist: „Ich bin transsexuell.“ Von nun an werde er als Frau leben und nicht mehr Lars, sondern Lara heißen.

Die erste Krise mit 16 Jahren

Das war vor zehn Jahren. Wenn Lara Nehrig heute über Transsexualität redet, spricht sie immer wieder von „seinen Weg finden“. Das Bild beschreibt auch ihre Lebensgeschichte. Bis zu ihrem 40. Lebensjahr hat Nehrig als Mann gelebt, war verheiratet, hatte zwei Kinder. Dabei habe sie schon vor der Pubertät gefühlt, dass etwas mit ihr nicht stimme. Sie habe das „Empfinden gehabt, im falschen Körper auf die Welt gekommen zu sein“. Mit 16 Jahren erlebte sie - damals noch als Lars - die erste große Krise. Nehrig brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus.
Doch auf eigene Faust konnte sie sich nicht durchschlagen, dafür reichte das Geld nicht. Auch fand sie keine Ansprechpartner für ihr Anliegen. In den Siebzigern und Achtzigern war Transsexualität kein Thema. Akzeptanz gab es kaum, sagt Nehrig, am wenigsten in der kleinen Dorfgemeinschaft, in der sie aufgewachsen war.

Der falsche Körper ist noch sichtbar

Sie versuchte, ihr Unwohlsein zu verdrängen. Wenn andere Männer das „Mann-Sein“ zu Wege brächten, müsste sie das auch irgendwie schaffen, war ihr Gedanke. „Mann-Sein“, das hieß: heiraten, Kinder kriegen, hart arbeiten, die Familie versorgen, keine Rücksicht auf sich selbst nehmen. Die Jahre verbrachte sie mit dem Leiden unter der Verdrängung und dem Wunsch, endlich zu sich selbst zu stehen. In der Mitte des Lebens habe sie schließlich das Gefühl gehabt, jetzt sei eine der letzten Möglichkeiten gekommen, in ihrem gefühlten Geschlecht zu leben.
Nehrig wohnt mittlerweile in einer kleinen Stadt im Norden Frankfurts. Ihr Name wurde für diesen Artikel geändert, weil sie nicht identifiziert werden möchte. Ihre Vergangenheit im anderen Geschlecht ist auch zehn Jahre nach der Hormontherapie noch sichtbar. Zwar hat sie Brüste und lange blonde Haare, trägt Lippenstift und Make-up. Und wenn sie lacht, wirft sie den Kopf nach hinten. Doch ihre Schultern sind auffallend breit für eine Frau, Hände und Arme sind sehr kräftig.

Wie das Thema öffentlich wurde

Seit Nehrigs Jugend hat sich das Bild von Transsexuellen in der Gesellschaft gewandelt. „Transgender“ ist längst geläufig als Oberbegriff für nichteindeutige geschlechtliche Zuweisungen und für Menschen, die sich nicht über klassische Geschlechterrollen bestimmen wollen.
Das Internet, Menschenrechtsgruppen und Künstler aus der Popkultur haben das Thema in die Öffentlichkeit gebracht. Die Sängerin Laura Jane Grace, geboren als Tom Gabel, veröffentlichte 2013 mit ihrer Band „Against Me!“ das Album „Transgender Dysphoria Blues“. Laverne Cox aus der amerikanischen Fernsehserie „Orange Is the New Black“ wurde in diesem Jahr als erste bekennend transsexuelle Schauspielerin für den amerikanischen Fernsehpreis Emmy nominiert. Und Anfang September erst erweiterte Facebook die Möglichkeiten für deutsche Nutzer, Geschlechtsangaben zu machen, um 60 Optionen, darunter sind auch viele Wahlmöglichkeiten für Transsexuelle.

Umdenken in der Psychologie

Lara Nehrig bezeichnet sich als „transident“. Mit dem Begriff will sie verdeutlichen, dass es sich nicht um eine sexuelle Vorliebe handelt, sondern um eine Identitätsstörung. Transidentität ist definiert durch die dauerhafte Gewissheit, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, durch das Unbehagen mit den angeborenen körperlichen Merkmalen und den Wunsch, im anderen Geschlecht leben zu wollen.
In aktuellen Klassifikationssysteme von psychischen Krankheiten ist auch nicht mehr von „Transsexualität“, sondern von Geschlechtsdysphorie die Rede; die Bezeichnung rückt das Leiden der Betroffenen in den Vordergrund und nicht die Transidentität als Störungsbild, wie Sophinette Becker erklärt. Die Psychotherapeutin hat die sexualmedizinische Ambulanz der Frankfurter Uniklinik bis zu deren Schließung im Jahr 2011 geleitet. Ende der neunziger Jahre war sie an den Leitlinien für die „Standards der Begutachtung und Behandlung von Transsexuellen“ entscheidend beteiligt.

Wie die Behandlung aussieht

Wesentlich für die Behandlung ist laut Becker die Frage, ob jemand mit dem Leben im neuen Geschlecht dauerhaft glücklicher wird. Erforderlich sei eine „Stück für Stück erfolgende Diagnose“. Zum einen wegen der gravierenden Konsequenzen im Fall einer Fehldiagnose - nicht nur die Operationen, auch manche Folgen der Hormonbehandlung wie Stimmbruch und Behaarung sind unumkehrbar. Zum anderen aufgrund der Unterschiedlichkeit der Fälle. Becker hat Transidente betreut, die schon Jahre vor Therapiebeginn ein Leben in der anderen Geschlechterrolle führten, ohne dass sie Hormone genommen hätten. Andere wiederum täten sich schon mit dem Outing schwer und hätten anfangs noch starke Unsicherheiten und innere Konflikte.
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen sieht vor, dass Patienten mindestens ein Jahr lang in psychologische Behandlung gehen, bevor sie mit einer Hormonbehandlung beginnen dürfen. Bis zur Operation sollen mindestens eineinhalb Jahre vergehen. Außerdem müssen die Patienten einen Alltagstest absolvieren. Darin sollen sie das neue Leben im anderen Geschlecht erproben, sich also in der Freizeit und im Alltag als Mann oder Frau anziehen und so verhalten, obwohl der Körper noch unverändert ist.

„Pervers oder krank“

„Man fühlt sich in dem Moment verkleidet“, sagt Lara Nehrig. Wer das tue, müsse sich darüber im Klaren sein, dass man auffalle, auch beschimpft werde, dass die Nachbarn darüber redeten. Für sie war es eine besonders schwierige Zeit: „Den Weg gehen nur diejenigen, die wirklich einen hohen Leidensdruck haben.“ Hormontherapie und Geschlechtsumwandlung fühlten sich an „wie eine zweite Pubertät“. Das scheinen manche wörtlich zu nehmen. „Viele machen den Fehler und haben ein Frauenvorbild wie eine Zwanzigjährige“, sagt Nehrig. Eine Transidente, die damals in ihre Nachbarschaft gezogen ist, stand eines Morgens in Minirock und High Heels, geschminkt wie beim Travestie-Theater, vor ihrer Tür.
Sich in der neuen Rolle zurechtzufinden ist eine der letzten Hürden auf dem Weg in die selbstempfundene Normalität. Für viele ist es jedoch schon ein Problem, ganz am Anfang einen geeigneten Ansprechpartner zu finden. „Der durchschnittliche Psychotherapeut oder Psychiater hat in seiner Ausbildung über Transsexualität nichts gelernt“, sagt Psychotherapeutin Becker. Fachkräfte fänden sich im Rhein-Main-Gebiet selten.
Wer schnell Beratung und Hilfe sucht, findet im Internet Gleichgesinnte oder nutzt die Unterstützung lokaler Selbsthilfegruppen. In Frankfurt leitet Sozialpädagogin Gitta Schwerberger den Transgender Freundeskreis. Sie organisiert regelmäßig Treffen. Dort können sich die Mitglieder austauschen und Beratung suchen. Schwerberger sagt, der Freundeskreis gehöre oft zu den ersten Stellen, die das Anliegen ernst nähmen. Viele Transidente hätten Selbstzweifel und würden von ihrem Umfeld hören, sie seien pervers oder krank. Bei manchen führe das Leiden zum psychischen Zusammenbruch oder gar zur Selbstverstümmelung.

Probleme in der Berufswelt

Nehrig und sie kennen sich über das Internet. In Schwerbergers Gruppe sind die meisten Mitglieder Mann-zu-Frau-Transidente, die Mehrheit ist älter als 40 Jahre. Es gebe einen großen Unterschied zwischen den Altersgruppen, sagt Schwerberger. Viele Jüngere würden eher zu sich stehen, auch dank der Aufklärung in Internet und Öffentlichkeit über das Thema.
Ältere Transidente, die bisher vor einer Behandlung und einem Outing zurückgeschreckt sind, haben ganz andere Hürden zu überwinden. Viele gehen mit dem Bekenntnis zu ihrer Transidentität beruflich ein hohes Risiko ein. Nach Schwerbergers Worten kam mehr als die Hälfte ihrer Gruppenmitglieder kurz nach dem Outing in Schwierigkeiten. Manche kündigten freiwillig, andere wurden versetzt oder entlassen. Das hängt nach Schwerbergers Erfahrung stark von der Branche ab. Bei der Arbeit mit Kunden und in großen, sich seriös gebenden Unternehmen sei die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, höher als in kleineren Betrieben. Dort kenne sie positive Beispiele. Ein ehemals männlicher Lastwagenfahrer ist mittlerweile als Frau im selben Unternehmen tätig wie vor dem Coming-out und erhält von den Kollegen volle Unterstützung. Die Akzeptanz in der Berufswelt sei im Laufe der Jahre ohnehin gewachsen, sagt Schwerberger.

Lara hatte Glück

Ältere Transidente stehen vor allem privat vor einem Umbruch. „Stellen Sie sich vor“, gibt die Sozialpädagogin zu bedenken, „Sie sind die Frau, und Ihr Ehemann sitzt nach zehn bis fünfzehn Jahren Ehe vor Ihnen am Frühstückstisch und sagt, ,Schatz, ich muss dir was sagen: Ich bin transident. Das heißt, ich bin auch eine Frau, und ich muss das jetzt leben‘.“ Für viele Paare ist das ein Scheidungsgrund. Auch die Beziehung zu Eltern, Kindern, Verwandten und Freunden kann zerbrechen.

„Man hat natürlich auch eine Vergangenheit und sich ein gewisses Leben aufgebaut“, sagt Lara Nehrig. Sie selbst sieht sich als eine der wenigen Transidenten, die Glück gehabt haben mit dem Verlauf des Coming-outs. Ihre beiden Kinder und ihre Eltern akzeptierten sie in ihrer neuen Identität. Den Lebensunterhalt kann sie als selbständige IT-Fachkraft weiter bestreiten. Und auch die Trennung von ihrer Frau geschah nicht unmittelbar als Folge des Outings. Freunde habe sie nicht verloren, „eher Bekannte dazugewonnen, die das Thema interessiert hat“.

Auch ihr Outing im Karnevalsverein verlief günstig: Viele kamen nach der Sitzung zu ihr, stellten Fragen und plauderten am Tresen darüber, was nun anstehe. Transidente würden von der Gesellschaft allgemein aber nach wie vor nicht so toleriert, wie viele es sich wünschten, sagt Nehrig. Am Ende wollten sie alle ein normales Leben führen wie jeder andere auch. „Das Wesen eines Menschen ändert sich nicht dadurch, dass er seinen Körper dem anpasst, was er schon immer gefühlt hat.“


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