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Nikita Noemi Rothenbächer 2015
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Geschlechtsunterschiede
aus neurowissenschaftlicher Sicht
Unterschiede im Verhalten zwischen männlichen und weiblichen
Tieren, die in der ethologischen Forschung (Ethologie) festgestellt wurden
(geschlechtsspezifisches Verhalten), ließen schon früh nach deren Ursachen
forschen. Die dabei gestellten Fragen lauteten vor allem, ob ihnen
morphologische Unterschiede im Gehirn zugrunde liegen, ob diese Differenzen
Einfluß auf die kognitiven Fähigkeiten haben könnten und - vor allem -
inwieweit der Mensch davon betroffen ist.
Unterschiede in der Gehirngröße
Wenn man ein menschliches Gehirn vor sich hat, kann man
nicht nur von der Betrachtung her sagen, ob es männlichen oder weiblichen
Ursprungs ist. Rein statistisch beträgt die durchschnittliche Hirnmasse
(Gehirngewicht) bei der Frau 1245 g und beim Mann 1375 g. Da es eine
Korrelation zwischen Hirnmasse und Körpermasse gibt und Frauen im Durchschnitt
kleiner sind als Männer, leitet sich daraus zunächst auch ein kleineres
weibliches Gehirn ab. Das Verhältnis von Hirnmasse zu Körpermasse verschiebt
sich nach einigen Untersuchungen sogar zu Gunsten des weiblichen Geschlechts:
Die Hirn-Körpermasse-Relation beträgt danach bei der Frau 1:46 (22g Hirnmasse
pro kg Körpermasse) und beim Mann 1:50 (20g pro kg). Allerdings gibt es
inzwischen auch neuere Befunde, die wiederum zum gegenteiligen Schluß kommen.
In jedem Fall sagen solche Durchschnittswerte jedoch nichts über die geistige
Leistungsfähigkeit eines bestimmten Individuums aus - Ausnahmen bestätigen
dabei wie immer die Regel. Ein besonders kleines Gehirn muß daher nicht zwangsläufig
einer Frau gehören; es kann ebenso einem kleinen Mann zugeordnet werden.
Systematische Untersuchungen zu Geschlechtsunterschieden im menschlichen Gehirn
aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, daß solche Unterschiede bereits bei
Neugeborenen vorhanden, also vermutlich genetisch bedingt sind. Diese
Differenzen sind zwar gering, aber signifikant, und bleiben beim Erwachsenen
bestehen.
Die Ausreifung kognitiver Leistungen (Kognition) des Gehirns
hängt von der Interaktion mit der Umwelt ab und beruht letztendlich auf
Lernprozessen während der Individualentwicklung. Hier zeigt sich ein wichtiger
Punkt bei der Betrachtung männlicher und weiblicher Gehirne, der zu der
zugespitzten Frage "Natur oder Erziehung" führt
(Anlage-Umwelt-Kontroverse). Weil kulturelle Aspekte (Kultur) bei der Erziehung
Heranwachsender nicht zu vermeiden sind, eignet sich der Mensch schlecht zur
Klärung dieses Problems. Man untersucht daher Nagetiere, die man ohne Gonaden
(Geschlechtsorgane) aufzieht, und kann dann während der Entwicklung männliche
oder weibliche Hormone (Sexualhormone) kontrolliert hinzugeben.
Hormonale Grundlagen des menschlichen kognitiven Verhaltens
Das Hauptresultat diesbezüglicher Forschungsergebnisse
lautet, daß Männer und Frauen sich in der Art ihrer Intelligenz unterscheiden,
und zwar vor allem in ihrer Art, abstrakte Aufgaben zu bewältigen. Die
hormonabhängige Differenzierung beginnt beim Menschen in einer frühen
Embryonalphase der vorgeburtlichen Entwicklung. Der ursprüngliche Bauplan ist
weiblich. Gegen Ende des zweiten Embryonalmonats bilden sich bei Vorhandensein
von X- und Y-Chromosom die männlichen Keimdrüsen aus. Diese Keimdrüsen, die
Hoden, beginnen im Normalfall mit der Produktion von Androgenen (den männlichen
Hormonen). Störungen in der Hormonbildung haben eine unvollständige
Maskulinisierung (Vermännlichung) zur Folge. Die männlichen Hormone bewirken
nicht nur die Maskulinisierung von primären und sekundären
Geschlechtsmerkmalen, sondern leiten auch spezifische Differenzierungen im sich
entwickelnden Gehirn ein ( siehe Zusatzinfo 1 ). Eine Besonderheit dabei ist,
daß das eigentlich aktive Hormon das weibliche Hormon Östradiol ist, in welches
das Testosteron durch Enzyme im Gehirn umgewandelt wird. Das weibliche Gehirn
muß demzufolge vor einem maskulinisierenden Einfluß des an sich weiblichen
Hormons (Östrogene) durch ein spezielles Alpha-Fetoprotein geschützt werden.
Das Androgen Testosteron kann sowohl in Östrogen als auch in Dihydrotestosteron
umgewandelt werden. Es wird aber umgekehrt auch im weiblichen Organismus aus
Progesteron gebildet. Dies erklärt die Tatsache, daß im Speichel der Frau
Testosteron quantitativ bestimmt werden kann, also ein Leben lang vorhanden
ist. Der Testosteronspiegel liegt jedoch beim weiblichen Geschlecht viel
niedriger als beim Mann. Dennoch bestimmt Testosteron das Verhalten und die
kognitiven Fähigkeiten beider Geschlechter in signifikanter Weise; das trifft
nicht nur für den Menschen, sondern auch für z.B. Ratten zu (siehe unten).
Geschlechtsabhängige Problemlösestrategien
Probleme, bei deren Lösung Frauen Männern überlegen sind,
lassen sich wie folgt aufzählen: 1) Frauen sind besser bei optischen
Wahrnehmungen, bei denen es auf die Geschwindigkeit, das detailgetreue
Erinnerungsvermögen und die Entscheidungsschnelligkeit ankommt. 2) Frauen haben
eine flüssigere Sprache, sprachlich den größeren Einfallsreichtum und können
besser exakt rechnen. 3) Frauen verfügen über eine feinere Motorik der Hand. 4)
Frauen besitzen eine höhere Wahrnehmungsgeschwindigkeit.
Männer sind dagegen bei den folgenden Leistungen im Vorteil:
1) Männer haben ein besseres Abstraktionsvermögen und sind bei mathemathischen
Schlußfolgerungen Frauen überlegen. 2) Männer können besser zielgerichtet
werfen und auffangen. 3) Männer haben ein besseres räumliches
Vorstellungsvermögen. 4) Männer zeigen bessere optische Leistungen bei
Suchbildern, d.h. beim Auffinden versteckter geometrischer Figuren.
Drei dieser Eigenschaften - räumliches Vorstellungsvermögen,
mathematisches Schlußfolgern und Wahrnehmungsgeschwindigkeit - wurden bei
männlichen und weiblichen Probanden in ihrer Abhängigkeit vom Testosterongehalt
untersucht. Die Ergebnisse sind überraschend. Frauen mit hohem
Testosteronspiegel lösen Fragen zum räumlichen Vorstellungsvermögen (männliche
Domäne) besser als Frauen mit niedriger Testosteronkonzentration. Bei Männern
ist es umgekehrt: ein niedriger Testosteronspiegel korreliert mit besseren
Leistungen. Bei dem Test zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit (weibliche Domäne)
gibt es dagegen keine Korrelation zwischen Hormongehalt und kognitiver
Leistung. Der Test zum mathematischen Schlußfolgern wiederum, bei dem Männer
besser abschneiden als Frauen, ergibt die besten Leistungen bei Männern mit
niedrigem Testosteronspiegel ( siehe Zusatzinfo 2 ). Diese und ähnliche Tests
zeigen übrigens auch Unterschiede zwischen homo- und heterosexuellen Männern.
Daraus ergibt sich, daß die optimale Testosteronkonzentration für die genannten
kognitiven Aspekte offensichtlich ein Prozentsatz ist, der höher als der
normale weibliche und niedriger als der normale männliche Spiegel ist.
Auch bei Ratten gibt es geschlechtsabhängige
Problemlösestrategien; beispielsweise orientieren sich weibliche Ratten genauso
wie Frauen mehr an markanten Punkten als an Winkeln und Formen der Gänge im
Labyrinth.
Morphologie
Eine andere Möglichkeit zur Feststellung von
geschlechtsspezifischen Unterschieden besteht darin, gezielt nur bestimmte
Hirngebiete, denen sich eindeutig Funktionen mit geschlechtsspezischen
Unterschieden zuordnen lassen, zu untersuchen und zu vergleichen. Dabei fanden
sich z.B. Unterschiede in der Gestalt oder Größe bestimmter Nervenzellen. Ein
besonders spektakulärer Versuch ist die Transplantation von
"Männlichkeit" auf eine junge weibliche Ratte. Hierbei wird Gewebe
desjenigen Hirnareals, welches das Sexualverhalten steuert, von neugeborenen
Männchen entnommen und weiblichen Geschwistertieren an Stelle des
entsprechenden weiblichen Hirngebietes eingepflanzt. Diese weiblichen Ratten
entwickeln dann als Erwachsene ein männliches Kopulationsverhalten. Die
ausgetauschten Zentren liegen bei Säugern in relativ kleinen, unscheinbaren
Arealen des Diencephalons (im Hypothalamus) und weisen bei Ratten und anderen
Nagern geschlechtsspezifische Größenunterschiede auf. Ähnliche Zentren findet
man auch bei Vögeln im Vorderhirn (Prosencephalon). Hier sind die Unterschiede
zwischen den Geschlechtern noch ausgeprägter, z.B. für das Hyperstriatum
ventrale pars caudale, das im Jahresrhythmus den Balzgesang steuert. Ebenfalls
eindeutige Befunde wurden von Gorski (1984) am Nucleus praeopticus medialis
(mediales präoptisches Areal) der Ratte erhoben. Dieser Nervenkern des
Hypothalamus ist in männlichen Rattengehirnen viermal größer als in weiblichen.
Beim menschlichen Gehirn sind die Beweise für morphologische
Unterschiede nicht so eindeutig. Das liegt nicht zuletzt an der komplexen
Interaktion von neuronalen und hormonellen Komponenten, die über das limbische
System Verhalten und kognitive Fähigkeiten beeinflussen.
Neuropsychologie und Lateralisierung
Die Großhirnrinde als Station des bewußten Erlebens von
Sinneseindrücken erweist sich von der Gestalt her als relativ
geschlechtsneutral und bilateral symmetrisch. Dieser morphologischen
Uniformität stehen funktionelle Asymmetrien der Hirnhälften gegenüber. Viele
Forscher meinen, daß besonders die Sprache und das räumliche
Vorstellungsvermögen bei Männern stärker als bei Frauen lateralisiert seien
(Asymmetrie des Gehirns). Die Pubertät markiert dabei einen wichtigen Punkt der
Entwicklung. Bis zu diesem Stadium kann man sich Sprachen allein dadurch
aneignen, daß man ihnen ausgesetzt ist, danach muß man sie aktiv erlernen.
Untersuchungen über den zeitlichen Verlauf der Lateralisierung, d.h. der
Spezialisierung der Hirnhälften (u.a. Links- und Rechtshändigkeit), an
hirngeschädigten Kindern zeigten, daß die Fähigkeit zum Spracherwerb und die
Lateralisierung gekoppelt sind. Hatten die untersuchten Kinder die Schädigung
vor dem Ende des zweiten Lebensjahres erlitten, begannen sie normal zu sprechen,
unabhängig davon, welche Hirnhälfte geschädigt war. Diese plastische Fähigkeit
ist während der frühkindlichen Entwicklung geschlechtsunabhängig. Bei
Erwachsenen treten ausgeprägte Geschlechtsunterschiede nach Hirnverletzungen
auf. Sprachstörungen, die die Wortwahl betreffen (Aphasien), finden wir bei
Frauen am häufigsten, wenn vordere Teile des Gehirns verletzt sind, bei
Männern, wenn hintere Teile beschädigt wurden. Schwierigkeiten, angemessene
Handbewegungen auszuführen (Apraxien) zeigen sich bei Frauen nach Läsionen der
vorderen linken Hirnhälfte und bei Männern nach Läsion in hinteren Regionen.
Dabei scheint der Mann stärker zu einer Spezialisierung seiner Hirnhälften zu
neigen als die Frau. Gegensätzliche Ergebnisse erbrachte jedoch wiederum die
Untersuchung von Linkshändern. Linkshändigkeit wird auf die geringere Dominanz
der linken Hemisphäre zurückgeführt. Es gibt jedoch eindeutig mehr linkshändige
Männer als Frauen. Selbst bei Rechtshändern benutzten Frauen die rechte Hand
öfter als rechtshändige Männer. Die Geschlechtsunterschiede bei funktionellen
Asymmetrien variieren also von Funktion zu Funktion: in einigen Fällen kann man
bei der Frau eine stärkere Asymmetrie beobachten, in anderen beim Mann.
Welche Bedeutung hat die unterschiedliche Lateralisierung
von Mann und Frau nun für deren Intelligenzquotienten (IQ)? Zur
geschlechtsneutralen Bewertung kann der Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene
herangezogen werden. Er besteht aus nonverbalen und verbalen Untertests. Als
Maß für den IQ berücksichtigt man sowohl die im nichtsprachlichen Teil
ermittelten als auch die im sprachlichen Teil bestimmten IQ-Werte. Bei Männern
beeinträchtigt z.B. eine Schädigung der linken Hirnhälfte den sprachlichen IQ
mehr als den nichtsprachlichen.
Abschließend und zusammenfassend kann festgestellt werden,
daß Frau und Mann in den einzelnen kognitiven Fähigkeiten mitunter wesentlich
differieren, aber nicht in der Gesamtintelligenz, für die der IQ im übrigen nur
ein Bewertungsaspekt unter vielen sein kann.
Lit.:
Gorski, R.A.: Sex differences in the rodent brain: Their nature and origin. In:
Sex differences in the brain. Eds.: De Vries, DeBruin, Uylings and Corner.
Elsevier, Amsterdam-New York-Oxford 1984, pp.37-67. Kimura, D., Harshman, R.A.:
Sex differences in brain organization for verbal and nonverbal function. In:
Sex differeneces in the brain. Eds.: De Vries, DeBruin, Uylings and Corner. Elsevier,
Amsterdam-New York-Oxford 1984, pp.423-439. Springer, S.P., Deutsch, G.:
Linkes-rechtes Gehirn: funktionelle Asymmetrien. Spektrum der Wissenschaft,
Heidelberg 1987.
Geschlechtstypische Unterschiede beim Menschen sind im
Bereich der Sinneswahrnehmungen gut untersucht: Frauen sind empfindlicher für
Berührungen und Gerüche, bemerken schneller Veränderungen in der Anordnung von
Objekten; Männer sehen im mittleren Gesichtsfeld besser, unterscheiden mehr
Einzelheiten bei bewegten Objekten usw. Auch in komplexeren Verhaltensweisen
zeichnen sich Unterschiede ab, auch wenn manche Allgemeingültigkeiten
inzwischen angezweifelt werden. Jungen scheinen nicht unbedingt häufiger als
Mädchen aggressiv zu sein, vielmehr soll nur die Art variieren, wie die
Aggressivität ausgedrückt wird. Jungen bevorzugen die augenfälligeren,
körperbetonten Varianten, doch ein wütender Blick, Spott oder verbale
Kommentare zeugen ebenso von Aggressivität. Auch die Festlegung der Rangordnung
innerhalb gleichgeschlechtlicher Gruppen unterscheidet sich entsprechend.
Bereits im frühen Kindergartenalter, sobald also Kinder in Gruppen miteinander
zu spielen beginnen, ist bei Jungen die sog. Dominanz-Hierarchie zu finden, bei
Mädchen die Geltungs-Hierarchie. Diese und andere geschlechtstypischen
Verhaltensdispositionen dürften auf der in der menschlichen Stammesgeschichte
früh angenommenen arbeitsteiligen Familien- und Gruppenstruktur beruhen. Man
geht von der grundlegenden Sicherstellung der Versorgung durch die
Sammeltätigkeit der Frauen aus, während die tierische Nahrung vorwiegend durch
die Jagd männlicher Gruppenmitglieder herbeigeschafft wurde. An dieser Vorstellung
wird in den letzten Jahren jedoch vermehrt Kritik geübt: man nimmt zunehmend
an, daß Frauen gleichfalls an der Erbeutung tierischer Nahrung beteiligt waren.
Auch die geschlechtsabhängig divergierenden Orientierungsmethoden im Raum -
werden Orientierungsmarken entfernt, haben Frauen größere Schwierigkeiten, sich
zurechtzufinden, Männer dagegen, wenn die räumlichen Dimensionen verändert
werden - werden mit den arbeitsteiligen Aufgaben im Ernährungsbereich zu
erklären versucht. Überleben und Fortpflanzung, die unterschiedliche
Beteiligung an der Versorgung und den Betreuungsaufgaben des Nachwuchses
erforderten demnach im Verlauf der Menschheitsgeschichte im jeweiligen
Geschlecht andere soziale Strategien, Eigenschaften und Fertigkeiten, die sich
in diesen unterschiedlichen Verhaltensdispositionen niederschlugen. In den
letzten Jahren belegen auch technisch aufwendige Untersuchungen zur
Arbeitsweise des Gehirns geschlechtsabhängige Unterschiede. Männer nutzen z.B.
für die Entschlüsselung gelesener Worte oder gesprochener Sprache bevorzugt
Teile der linken Hirnhemisphäre, Frauen Areale beider Gehirnseiten. Auch bei
mathematischen Aufgaben (die Differenz zwischen den durchschnittlichen
mathematischen Leistungen von Mädchen und Jungen vermindert sich in den letzten
Jahren immer mehr) und auf Emotionen (wobei ebenfalls morphologische
Variationen festgestellt wurden) ausgerichteten Anforderungen weichen die
aktiven Gehirnareale voneinander ab. Bei einigen Untersuchungen zeigte sich
jedoch auch, daß bei manchen Frauen das Gehirn wie bei den Männern
"funktioniert". Unterschiede bei den gestellten Aufgaben treten meist
dann deutlicher hervor, wenn man sehr spezielle Fertigkeiten abfragt. Bei
komplexeren Aufgaben, zu deren Bewältigung viele Fähigkeiten erforderlich sind,
verringern sich die Unterschiede, falls sie überhaupt nachweisbar sind. Die
Aufschlüsselung geschlechtsabhängiger Eigenschaften mit Hilfe neuer
Technologien der Hirnforschung steht noch immer weit am Anfang, zudem ist die
untersuchte Probandenzahl aufgrund der aufwendigen Methoden vergleichsweise
gering. Endgültige Aussagen über die Ursachen sind nach wie vor nicht möglich.
Die Vermutung liegt aber nahe, daß Gründe im variierenden Hormonhaushalt
(Hormone) der Geschlechter im Verlauf der Entwicklung zu suchen sind.
Hormonveränderungen beeinflussen die Leistungen, das Denken und Fühlen
beständig. Tests an Frauen zu verschiedenen Zeiten ihres Menstruationszyklus
belegten, daß sie während der Phase hohen Östrogenspiegels in Sprachtests am
besten abschnitten, die räumlichen Fähigkeiten jedoch nachließen. Die
Unterschiede zwischen den Geschlechtern beruhen sicherlich auch auf der
geschlechtsrollenabhängigen Sozialisation. Die Plastizität des Gehirns sollte
dabei nicht vernachlässigt werden. Bereits durch kurzfristige Übungen wird die
Art verändert, in der sich das Gehirn organisiert. Entsprechendes ist auch für
langfristige Sozialisationserfahrungen zu erwarten. Man geht aber auch davon
aus, daß aufgrund der frühen und spontanen Bevorzugung von gleichgeschlechtlichen
Interaktions- und Spielpartnern für ein Individuum die Mitglieder des eigenen
Geschlechts über attraktivere Verhaltensmuster verfügen, da sie dessen
individuellen Neigungen besser entsprechen. Die Orientierung eines Kindes zum
eigenen Geschlecht hin verstärkt folglich geschlechtstypische Verhaltensweisen
zusätzlich.
E.K.
Lit.: Wickler, W., Seibt, U.: Männlich - Weiblich. Ein
Naturgesetz und seine Folgen. Heidelberg 1998.
Geschlechtsunterschiede aus neurowissenschaftlicher Sicht
1 Die Befunde zur geschlechtsspezifischen, hormonabhängigen
Differenzierung des Gehirns vor der Geburt werden bestätigt durch
Untersuchungen an Mädchen, die im Mutterleib oder als Neugeborene einem Übermaß
an Androgenen ausgesetzt waren oder einen genetischen Defekt haben, der eine
Vergrößerung der Nebennieren bewirkt, die der Bildungsort der Steroidhormone
sind. Diese verhalten sich wie Jungen, auch wenn die Geschlechtsunterschiede
operativ korrigiert wurden oder medikamentös der Androgeneinfluß zurückgedrängt
wurde. Die vorgeburtlichen Auswirkungen auf das Gehirn lassen sich
offensichtlich nicht mehr umkehren.
Geschlechtsunterschiede aus neurowissenschaftlicher Sicht
2 Die Hormonabhängigkeit kognitiver Leistungen ist nicht nur
geschlechtsspezifisch. Bei Männern ist ein testosteronabhängiger Jahresrhythmus
festzustellen. Bei Frauen schwanken die Fähigkeiten während des
Menstruationszyklus mit dem Östrogenspiegel.
Der im Vergleich zum männlichen Geschlecht immer relativ
hohe Östrogenspiegel der Frau erhöht die Schwelle für Schizophrenie bei der
Frau. Nach der Monatsblutung, wenn der Östrogenspiegel ansteigt, schützt das
Östrogen bis zu einem gewissen Grad auch Frauen, bei denen die Krankheit
ausgebrochen ist, vor schizophrenen Symptomen, deren Stärke mit dem Abfall des
Östrogenspiegels erneut zunimmt. Der relative Schutz der Frau vor der
Erkrankung geht mit den Wechseljahren verloren. In diesem Zusammenhang wurde in
Tierversuchen nachgewiesen, daß Östrogene die Empfindlichkeit von
Dopaminrezeptoren (Typ 2) vermindern, also neuromodulatorisch wirken.
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