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Viele Eltern von intersexuellen Kindern schämen sich
Was steckt hinter dem Wunsch, intersexuelle Kinder operativ
zu «richtigen» Mädchen oder Buben zu machen? Die Frage geht an Otfried Höffe,
Präsident der Humanmedizin-Ethikkommission.
Kürzlich hat Sie das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte
nach Genf eingeladen. Weiten Sie das Einflussgebiet der Nationalen
Ethikkommission aus?
Der UNO-Anlass war ein Expertentreffen zum Thema
Intersexualität. Wir von der Nationalen Ethikkommission im Bereich der
Humanmedizin (NEK) haben eine Stellungnahme dazu verfasst, die
erfreulicherweise über die Landesgrenzen hinaus zur Kenntnis genommen wird. Der
Deutsche Ethikrat, aber auch die Vereinten Nationen haben die Empfehlungen
zustimmend aufgenommen.
Oft wird Intersexualität mit Transsexualität verwechselt.
Das ist nicht dasselbe. Intersexuell sind Personen, die mit
einem biologisch uneindeutigen Geschlecht geboren sind. Aus genetischen oder
anderen Gründen lässt sich nicht eindeutig sagen, ob sie männlich oder weiblich
sind. Meist ist ihr körperliches Erscheinungsbild nicht klar ausgebildet, es
ist also etwa keine Vagina oder kein Penis vorhanden, oder diese sind nur
schwach entwickelt. Schätzungsweise 1 von 2000 Neugeborenen ist betroffen.
Transsexuell hingegen sind Personen, die ihr biologisch eindeutiges Geschlecht
als für sie unangemessen empfinden, die es daher wechseln möchten.
Laut einer Studie mit Betroffenen aus der Schweiz,
Deutschland und Österreich wurden 90 Prozent aller intersexuellen Erwachsenen
mindestens einmal operiert. Die Mehrheit im Alter zwischen null und drei
Jahren. Was steckt hinter dem Wunsch, intersexuelle Kinder operativ zu
«richtigen» Mädchen oder Buben zu machen?
Die Aufteilung in Frau und Mann ist gesellschaftlich,
kulturell und rechtlich tief verankert. Viele Eltern von intersexuellen Kindern
schämen sich. Oder sie befürchten, dass ihr Kind es künftig schwerer haben wird
als andere. Diese Erwartung ist nicht ganz unberechtigt. Spätestens in der
Schule wird das Kind merken, dass es anders ist: In welche Garderobe soll es im
Sportunterricht gehen, welche Toilette soll es benutzen? Besonders schwierig
ist die Pubertät. Sie ist ja für alle Heranwachsenden eine Herausforderung,
aber für intersexuelle Menschen in erhöhtem Mass. Manche Eltern lassen ihre
Kinder also operieren, weil sie es ihnen einfacher machen wollen.
Sie sagen aber, dass diese Behandlungen zu grossen Problemen
führen.
Ja. In vielen Fällen kommt es bei den Betroffenen zu
schwerwiegenden körperlichen Komplikationen, zu chronischen Schmerzen, zum
Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit und zu einer Beeinträchtigung des
Sexuallebens sowie zu psychischen Folgeerkrankungen. In den meisten Fällen
macht man aus den Betroffenen Mädchen, da das operativ einfacher ist. Wenn aber
die Betroffenen sich später nicht als Mädchen fühlen, wird es für sie sehr
schwierig.
Was sollen Ärzte betroffenen Eltern raten?
Sie müssen ihnen deutlich machen, dass in der Regel die
Entscheidung für oder gegen eine Operation nicht sofort fallen muss. Ferner,
dass diese Operationen nur in seltenen Fällen medizinisch indiziert sind, etwa
bei bestimmten Krebserkrankungen.
In allen anderen Fällen kann man auf Operationen verzichten?
So scheint es zu sein. Zumindest kann man zuwarten, bis die
Kinder selbst darüber entscheiden können. Wir empfehlen, die Kinder möglichst
früh in die medizinischen Behandlungsentscheide einzubinden. Man sollte ihre
Entscheidungsfähigkeit doch nicht unterschätzen. Ärzte und Psychologen müssen
die Eltern zudem darin bestärken, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind. Nur
dann können sie zu selbstbewussten Menschen heranwachsen.
Was, wenn sich Betroffene später für eine Operation
entscheiden?
Dann ist es unseres Erachtens wichtig, eine etwaige
Veränderung bei den Behörden unbürokratisch vollziehen zu können. Ich denke
insbesondere an das Zivilstandsregister, in dem Geschlecht und Name eingetragen
sind. Das Leid der Betroffenen soll nicht noch grösser werden, als es ohnehin
schon ist.
Deutschlands Behörden haben 2013 das dritte Geschlecht als
Option eingeführt. In der Schweiz ist das nicht geplant, auch weil die NEK
dagegen ist. Warum?
Wir haben kein grundsätzliches Veto eingelegt, sondern nur
erklärt: Unter den derzeitigen Bedingungen halten wir es noch nicht für
vernünftig. Wir haben Zweifel, ob dieses dritte Geschlecht die Betroffenen so
viel besser stellt. Die meisten wollen sich ja selbst einer der beiden
Kategorien zuordnen. Dieser Wunsch besteht nicht nur bei den Eltern. Wenn man
im Passbüro ankommt und das dritte Geschlecht ankreuzt, wird jeder Passbeamte
zunächst einmal – schauen. Ein stigmatisierender Effekt.
Vor 20 Jahren war das Thema Intersexualität in der
Öffentlichkeit fast unbekannt. Verschaffen sich Betroffene heute mehr Gehör?
Das trifft zu. Auch deshalb nehmen Politiker und sogenannte
Ethiker das Leid wahr, das die Betroffenen erleiden mussten und immer noch
müssen. Hinzu kommt, dass wir in den letzten zwanzig, dreissig Jahren ein weit
grösseres Mass an selbstverständlicher Toleranz entwickelt haben.
Leben wir heute in der besten Zeit für Normabweichler?
Normabweichler – den Ausdruck verwende ich mit Vorbehalt –
haben es heute ohne Frage besser als früher. Aber ob wir schon die beste
denkbare Zeit erleben – da bin ich zurückhaltend. Bei der Homosexualität hat
die Toleranz zugenommen, ja, bei Selbstmördern auch. In Grossbritannien war
Suizid noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Straftatbestand. Man könnte
zwar einwenden: Das hat die Selbstmörder nicht mehr berührt. Doch oftmals
wurden auch die Hinterbliebenen bestraft, indem das Vermögen eingezogen wurde.
Dann verlor eine Ehefrau neben ihrem Gatten gleich auch noch die
Lebensgrundlage. Das ist zum Glück vorbei.
Wo bleiben wir im Alltag intolerant?
Vielleicht im Sport? Über Frauenfussball kann man oft hören:
«Das sind doch alles Lesben.» Und wenn sich ein männlicher Fussballer als
homosexuell outet, ist das für manche Fans immer noch ein Problem. Das liegt
wohl am Selbstverständnis von Sportvereinen und ihrer Anhänger: Fussball soll
ein besonders männlicher Sport sein. Es wird wohl noch ein bisschen Zeit
brauchen, bis Homosexualität auch hier kein Thema mehr ist.
Die neue Toleranz hat aber Grenzen, oder? Etwa bei
Genitalverstümmelungen im Namen der Tradition.
Toleranz endet stets dort, wo es berechtigte Rechte,
namentlich Grund- und Menschenrechte, gibt. Die Toleranz fällt sich nicht
selbst in den Rücken.
Wenn Diskriminierung aller Art nicht mehr salonfähig ist,
verändert sich dadurch unsere Sprache? Werden wir politisch korrekter?
Das gibt es, ja. Ich weiss von einem hochrangigen
Unternehmer, der eine Zeit lang in den USA tätig war. Dort hat er seiner
Sekretärin einmal ein Kompliment für ihre fesche Kleidung gemacht, worauf sie
sagte: «Ich weiss, wie Sie es meinen. Aber seien Sie vorsichtig, das könnte von
anderen als sexuelle Belästigung verstanden werden.» In den USA geht leider
manchmal das Augenmass verloren.
Beim Thema Intersexualität hat die NEK auf Bitten der
Politik eine Stellungnahme erarbeitet. Ist das der übliche Vorgang?
Ein möglicher Vorgang. Die NEK ist empfehlungsberechtigt und
verpflichtet gegenüber dem Innenminister, also Alain Berset, aber auch gegenüber
dem Bundesrat als Korpus, weiter dem Parlament und vor allem der
Öffentlichkeit. Manchmal werden wir angefragt, manchmal werden wir von uns aus
tätig.
Womit befasst sich die Kommission derzeit?
Ein wichtiges Thema sind die Biobanken. Hierzu gab es
Interpellationen aus dem Parlament. In den nächsten Monaten kommen unsere
Empfehlungen heraus. Das Thema ist hochaktuell.
Was sind Biobanken? Medizinische Ersatzteillager?
Biobanken sind Sammlungen von biologischem Material wie
Gewebe, Blut oder DNA, das mit persönlichen Daten der Spenderinnen und Spender
verknüpft ist, insbesondere mit Daten aus Krankengeschichten. Zu den
Biodatenbanken gehören überdies auch reine Datensammlungen, die biologisches
Material in Form genetischer Daten aufbewahren und mit anderen Personendaten
verlinken. Dabei tauchen unterschiedliche Interessen auf, etwa die der
biomedizinischen Forschung und auf längere Sicht die Bedürfnisse künftiger
Patienten sowie der Ärzteschaft. Wirtschaftliche Interessen kommen hinzu. Auf
der anderen Seite aber steht das Selbstbestimmungsrecht der Spender,
einschliesslich des Rechts auf Wissen oder aber Nichtwissen in Bezug auf
gesundheitsrelevante Befunde.
Können Sie uns hier ein Beispiel geben?
Wenn während einer klinischen Studie zur Lungenfunktion eine
Niereninsuffizienz festgestellt wird: Soll man das der Versuchsperson
mitteilen? Oder muss man schon zu Beginn fragen: Würden Sie es eventuell wissen
wollen? Dass man einschlägige Daten für weitere Forschung aufbewahrt, ist
durchaus sinnvoll. Jedoch stellt sich die Frage, wie die Daten anonymisiert
werden können. Und besonders: Funktioniert der Datenschutz?
Sie haben 2009 bei der NEK angefangen. Bleiben Sie ihr bis
auf weiteres erhalten?
Für nächstes Jahr gibt es Ersatzwahlen. Da ich nicht mehr
der Jüngste bin, erwarte ich, dass der Bundesrat sich eine jüngere Person
sucht.
Würden Sie denn gern bleiben?
Die Arbeit hat mir immer Spass gemacht und macht mir
weiterhin Spass. Wenn ich abends zu meiner Frau nach Hause komme, bin ich recht
zufrieden.
Weshalb?
Die NEK ist das, was man generell von Schweizern sagt: im
ursprünglichen Sinne bürgerlich. Wir gehen freundlich miteinander um.
Parteipolitische und andere Gegensätze treten nicht so hervor, auch gibt es
keine Gruppen- oder Verbandsvertreter in der Kommission wie etwa im Deutschen
Ethikrat. Wir achten darauf, dass wir ungefähr hälftig Männer und Frauen und
dass alle Landesteile vertreten sind. Ansonsten geht es um Kompetenz.
In jüngster Zeit hat sich Ihre Kommission auch mit der
Kultur des Sterbens befasst. Was versteht man darunter?
Es gibt den lateinischen Ausdruck der Ars Moriendi, also
Kunst des Sterbens. Dabei heisst «Ars» nicht schöne Kunst, sondern eher
Handwerk. So wie ein medizinischer Kunstfehler nichts mit Malerei zu tun hat,
sondern mit einem Arzt, der sein Metier nicht beherrscht. Bei der Kultur des
Sterbens fragen wir uns: Wie geht man persönlich mit dem Sterben um? Wie die
Verwandten, die Nachbarn, die Gesellschaft, wie die Organisationen und die
Institutionen? Haben wir noch Rituale?
Zu welcher Antwort kommen Sie?
Das Bedürfnis nach Ritualen besteht durchaus. Man weiss aber
nicht, wie sie aussehen sollen. Was wir uns ferner fragen: Sprechen wir über
das Sterben? Wenn ich höre, dass ein Bekannter eine schwere Diagnose hat und in
absehbarer Zeit stirbt, wie gehe ich damit um: Besuche ich ihn, oder rufe ich
ihn an? Und wie schreibe ich seiner Frau nach seinem Tod einen Kondolenzbrief?
Meine These ist, dass wir die Sprache dafür bereits ein gutes Stück verloren
haben. Bei unserem Projekt geht es also weniger um die Hilfe zu sterben als um
Hilfe beim Sterben.
Ist das ein drängendes Problem?
Ohne Zweifel, auch wenn es sich in unseren
Wohlstandsgesellschaften anders stellt. Wir dürfen nicht vergessen, dass
vielerorts unter erschreckenden Bedingungen gestorben wird: nach einem Tsunami,
einem Erdbeben, auf der Flucht. Wir leben hier mit einem sehr guten
Gesundheitswesen, haben Ärzte und Spitäler in der Nähe. Doch auch unter diesen
Bedingungen müssen wir die Kunst des Sterbens als eine wahrhaft existenzielle
Aufgabe ernst nehmen.
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