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Vorurteil eins: Geschlecht ist etwas Eindeutiges und Naturgegebenes
"Geschlecht ist eine wichtige Ordnungsstruktur unserer
Gesellschaft," sagt Judith Conrads vom Netzwerk Frauen- und
Geschlechterforschung NRW der Universität Duisburg-Essen. "Das
Alltagswissen geht davon aus, Geschlecht sei etwas Natürliches", sagt
Conrads. "Und Naturgegebenes wird selten hinterfragt."
Allein durch ihre Existenz stellen Intersexuelle das
vermeintlich Naturgegebene in Frage, denn auch sie sind nun mal von "Natur
aus" so, wie sie sind. Deshalb wird in der Wissenschaft zunehmend eine
soziale, gesellschaftliche Komponente der Kategorie Geschlecht diskutiert.
Demnach ist die Trennung zwischen nur zwei Geschlechtern eben nicht
naturgegeben, sondern menschengemacht und willkürlich konstruiert.
Prominenteste Vertreterin dieser These ist die Genderforscherin
Judith Butler, die in zahlreichen Werken ausbuchstabiert hat, dass Körper und
Gesellschaft nicht getrennt voneinander zu sehen sind. Konkret: Auch wenn der
Körper als naturgegeben erscheint, ist er Teil einer gesellschaftlichen
Vorstellung. Dahinter steht die Frage, was eine Frau zur Frau macht - und was
einen Mann zum Mann. Gängige Antwort: Frauen können Kinder bekommen, Männer
nicht. Dass weit verbreitete Denkmodelle wie diese zu kurz greifen,
verdeutlicht allein die Tatsache, dass Tausende von Menschen in Deutschland
keine Kinder bekommen können, obwohl sie sich welche wünschen. Sind sie also
keine Frauen oder keine Männer?
Auch wenn die Debatte um sexuelle Vielfalt in Deutschland
schon viel bewegt hat, bleiben viele Fragen unbeantwortet - oder auf den
akademischen Kontext beschränkt. Nach Einschätzung von Judith Conrads führt
außerdem die Begegnung mit Trans- und Inter-Menschen im Alltag nicht
zwangsläufig zu einem Umdenken in der Bevölkerung. "Im Gegenteil",
sagt Conrads. "Ihr Beispiel wird oftmals als Abweichung von der
Geschlechternorm aufgefasst und damit als Bestätigung des klassischen
Frau/Mann-Bildes gesehen." Man müsse unterscheiden zwischen Toleranz als
öffentlichem Lippenbekenntnis und gelebter Toleranz im Privatleben, die bedeuten
könne, auch eigene Grenzen zu überschreiten.
Vorurteil zwei: Es gibt zwei Geschlechter - Mann und Frau
Noch immer herrscht in unserer Gesellschaft die Vorstellung,
es gebe nur zwei Varianten: Mann oder Frau. Diese Vorstellungswelt lasse
Homosexualität zu, da diese das Konzept "Mann - Frau" nicht in Frage
stelle - bei Trans- und Intersexuellen sehe das anders aus, sagt
Geschlechterforscherin Conrads. Denn insbesondere intersexuelle Menschen
sprengen das binäre System, sie lassen sich nicht in gängige Strukturen einordnen
und werden deshalb oftmals ausgegrenzt.
Von der wachsenden Toleranz gegenüber Homosexuellen
profitieren trans- und intersexuelle Menschen bislang nur wenig. Bewerben sich
beispielsweise Transsexuelle auf einen Job, scheitern 30 bis 40 Prozent wegen
ihres Trans-Seins. Intersexuelle können oder wollen sich nicht entscheiden, zu
welchem Geschlecht sie gehören. Im Alltag stoßen sie oft auf Schwierigkeiten -
von Formularen beim Behördengang über Hotelbuchungen bis hin zur Nutzung
öffentlicher Toiletten.
Deshalb wird von verschiedener Seite die Forderung nach
Anerkennung eines dritten, neutralen Geschlechts laut, das in Deutschland nach
dem Personenstandsgesetz seit 2013 auch juristisch existiert. Bei Kindern, die
eindeutig weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden
können, bleibt das Datenfeld demnach leer. Doch dieser Ansatz stößt bei einigen
Intersexuellen auf Kritik, nicht nur weil er keine ergänzende Angabe ermöglicht
und nur für Kinder gilt. Auch grundsätzlich wird das Konstrukt eines dritten
Geschlechts mitunter abgelehnt, weil es weiterhin ausgrenze und damit die
"Andersartigkeit" zementiere.
Was also tun? Geschlechterkategorien ganz abschaffen?
Zusätzliche Kategorien einführen, die sich nicht daran orientieren, ob ein
Mensch einen Penis oder eine Vagina hat, sondern vielleicht nach Statur und
Körpergröße? Die Überlegungen sind vielfältig und werden in Fachkreisen und
unter Betroffenen kontrovers diskutiert.
Vorurteil drei: Intersexualität ist eine Krankheit
Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche haben Kinder im
Mutterleib noch kein eindeutiges Geschlecht. Beide Anlagen sind vorhanden,
Hormone lenken die Entwicklung schließlich in die eine oder andere Richtung.
Bei Intersexuellen hat dies nicht in vollem Umfang stattgefunden. Innere und
äußere Geschlechtsteile können unvollständig ausgebildet sein. Intersexuelle
Kinder kommen beispielsweise mit einer vergrößerten Klitoris oder einem
verkleinerten Penis zur Welt. Intersexuelle sind weder Mann noch Frau.
Die Ursachen dafür sind vielfältig und können etwa durch
einen veränderten Chromosomensatz entstehen. Fachleute sprechen von einer
"Störung der Geschlechtsentwicklung" (Disorders of Sex Development,
DSD). Viele Intersexuelle kritisieren den Begriff "Störung" als
diskriminierend, weil er nach Krankheit klingt. Interessenverbände wie
TransInterQueer engagieren sich deswegen dafür, dass Intersexualität als
Spielart der Natur anerkannt wird. Sie kämpfen gegen die Diskriminierung von
Intersexuellen und versuchen deutlich zu machen, dass Intersexualität eben
keine Krankheit ist, zumal medizinische Probleme nur selten auftreten.
Auch in den Krankenhäusern setzt sich diese Einschätzung
allmählich durch. Noch bis vor wenigen Jahren wurden Kinder mit uneindeutigen
Geschlechtsorganen oft kurz nach der Geburt operiert. Sie wurden zu Junge oder
Mädchen, nichts sollte darauf hinweisen, dass sie intersexuell sind. Die Ärzte
handelten dabei im vermeintlichen Interesse der Neugeborenen, wollten ihnen
Leid und Identitätskonflikte ersparen - oft auch auf Bitten der Eltern.
Jedoch ist gerade dieser medizinische Eingriff eine
schmerzhafte Erfahrung für viele Patienten. Zahlreiche intergeschlechtliche
Menschen, die operiert wurden, sehen ihren Körper heute als verstümmelt an,
fühlen sich fremd in ihrer Haut. Deswegen warten Mediziner mittlerweile so
lange, bis sich ein intersexueller Mensch selbst für oder gegen eine OP
entscheiden kann. "Der Wunsch der Eltern nach einem eindeutigen Geschlecht
sollte gehört, aber nicht automatisch befolgt werden", sagt Hertha Richter-Appelt
von der Uniklinik Hamburg.
Nur in medizinischen Ausnahmefällen werden Intersexuelle
heute bereits im Kindesalter operiert. Zum Beispiel dann, wenn das Wasserlassen
nicht problemlos möglich ist oder Krebsgefahr besteht. Doch solche eindeutigen Indikationen
sind selten. Um Klarheit zu schaffen, veröffentlicht die Bundesärztekammer noch
in diesem Jahr Leitlinien für Mediziner zum Thema Intersexualität. Darin werden
Fragen zur psychologischen Behandlung, zu Operationsindikatoren und -methoden
behandelt.
Vorurteil vier: Transsexualität ist - genau wie
Homosexualität - eine sexuelle Neigung
"Du Transe" ist noch immer ein beliebtes
Schimpfwort auf Schulhöfen. Dabei wissen viele nicht einmal, was
Transsexualität eigentlich bedeutet. Vorurteile und Unwissen sind weit
verbreitet, Begriffe werden verwechselt und falsch angewendet.
Transsexuelle Menschen werden mit einem eindeutig männlichen
oder weiblichen Körper geboren, fühlen sich aber dem jeweils anderen Geschlecht
zugehörig. Viele Transsexuelle sind überzeugt, im "falschen" Körper
zu stecken. In Deutschland haben seit Anfang der neunziger Jahre mehr als 17
000 Menschen ihr Geschlecht offiziell nach dem Transsexuellengesetz angleichen
lassen - weitaus mehr Betroffene aber haben diesen Schritt vermutlich noch
nicht unternommen.
Viele entscheiden sich für eine Operation, um den Körper dem
Erleben anzupassen und im Idealfall als Frau oder Mann leben zu können.
"Wenn von einer Operation die Rede ist, geht es meist um die Angleichung
des äußeren Genitals", sagt Hertha Richter-Appelt vom Institut für
Sexualforschung der Uniklinik Hamburg. Bei den Eingriffen können Ärzte aus
bestimmten Hautregionen einen Penis oder aus einem Penis eine Vagina formen.
Nicht möglich ist die Angleichung der inneren Geschlechtsorgane wie zum
Beispiel der Eierstöcke.
Die sexuelle Identität, im Alltag oft auch als Neigung oder
Vorliebe bezeichnet, hat dagegen mit Transsexualität nicht viel zu tun. Dabei
geht es um die Frage, ob sich jemand zu Frauen, Männern, beiden Geschlechtern
oder zu niemandem sexuell hingezogen fühlt. Auch wenn die Begriffe ähnlich
klingen: Transsexualität ist keine Frage der sexuellen Neigung, sondern der
Geschlechtsidentität.
Vorurteil fünf: Männer müssen aufpassen, nicht auf
Trans-Frauen hereinzufallen
SZ.de hat Zuschriften von Lesern und Leserinnen erhalten,
die von Anfeindungen gegenüber Transsexuellen berichten. Nicht selten bekommen
Trans-Frauen, die die Geschlechtsangleichung vom Mann zur Frau hinter sich
haben, demnach zu hören, sie sollten aufhören, Männer auszutricksen. Ihnen wird
unterstellt, sie würden Männer mit ihrem "falschen" Geschlecht
betrügen. In den Zuschriften berichten Trans-Menschen, wie sehr sie sich einen
Partner wünschen, aber immer wieder Ablehnung erfahren, wenn sie ihre Geschichte
erzählen. "Es ist lediglich eine Kopfsache, die Tausende Transsexuelle zu
Singles macht", schreibt eine Leserin.
Häufig ist auch zu hören, Transsexuelle entschieden sich zu
einer "Geschlechtsumwandlung". Betroffene Menschen aber sprechen
lieber von einer Geschlechtsangleichung. Denn Umwandlung klingt nach
Verwandlung und Verkleidung. Transsexuelle wollen sich befreien von der Last,
im falschen Körper zu stecken. Der Vorwurf, sie würden danach fälschlicherweise
vorgeben, Mann oder Frau zu sein, zeugt vor diesem Hintergrund von mangelndem
Verständnis und geht ins Leere.
Noch immer werden Trans-Menschen zudem als Transvestiten
bezeichnet. Das ist schlicht falsch: Transvestitismus beschreibt das Tragen von
Kleidern des anderen Geschlechts, unabhängig von der eigenen sexuellen
Orientierung. Es kann als politisches Statement, als Kunstform oder einfach aus
Spaß geschehen.
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