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und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016
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Hinter Unterschieden versteckt sich die Normalität
Jörg Woweries ist Kinderarzt und war 25
Jahre in der Klinik Berlin-Neukölln überwiegend mit der Betreuung von
Neugeborenen beschäftigt. In diesem Artikel stellt er die Notwendigkeit
medizinischer Eingriffe an zweigeschlechtlichen Menschen infrage und handelt
die Herkunft des medizinischen Standards im Umgang mit Intersexualität ab.
Dabei geht er insbesondere auf die psychischen und physischen Langzeitfolgen
ein, die durch medizinische Behandlungen im Kindesalter und bei Neugeborenen
oftmals entstehen.
Der Ethikrat und das deutsche Parlament haben intensiv über die Zulassung
oder Ablehnung der PID (Präimplantationsdiagnotsik) diskutiert. Insbesondere
ging es um die Ablehnung der Selektion eines Ungeborenen. Momentan befasst sich
der Ethikrat mit der Thematik Intersexualität, mit der Situation von
betroffenen Menschen, die nicht in die gesellschaftliche Norm von Geschlecht
passen.
Nach der Geburt eines Menschen ändert sich dessen
Situation dramatisch: Wenn ein Kind geboren wird, dessen Genitale weder der
weiblichen noch der männlichen Norm entspricht, kann die Dramatik der Änderung
besonders groß sein. Mediziner bieten an, das Genital durch
„genitalangleichende“ chirurgische Maßnamen im äußeren Bild anzupassen. Die
Medizin sieht alles, was die dichotome Ordnung der Geschlechtseinteilung in
Frage stellt, als abnorm, unnatürlich oder pathologisch an. Die Säuglinge und
Kleinkinder werden nach diesem Konzept willkürlich und zwangsweise entweder dem
männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, höchstwahrscheinlich dem
weiblichen Geschlecht, weil das operationstechnisch einfacher für den Chirurgen
ist. Zu fragen ist hier: Handelt es sich tatsächlich um Abweichungen von einer
Norm? Was ist die Norm? Sind uneindeutige Genitale nicht doch Varianten
biologischer Vielfalt? Der Sinn der „genitalangleichenden Operationen“ ist
anzuzweifeln, denn chirurgische Maßnahmen beeinflussen die selbst empfundene
Geschlechtsidentität nicht.
„Ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist ein Recht
gegen die normierte Vergeschlechtlichung“, so Prof. Susanne Baer (2010). Die
Medizin hilft bei der Verwirklichung dieses Rechtes nicht und die
Juristen halten sich zurück. Prof. Dr. Jochen Taupitz sagt
im Online-Diskurs Intersexualität (18. Juli 2011 um 11:58): „Auch hier gilt,
… dass zunächst einmal die Medizin sagen muss, was möglich ist und was
(voraussichtlich) das Richtige ist. Ein Jurist kann das nicht beurteilen – und
auch ein Gericht ist auf medizinische Expertise angewiesen“. Wenn es sich
um medizinische Fragen handelt, ist das sicher richtig: Das betrifft aber nur
die Hormongabe beim Adrenogenitalen Syndrom (AGS) und bei Abflussbehinderungen
des Harns. Bei fast allen übrigen chirurgischen Eingriffe, die als
„genitalangleichende Operationen“ angeboten werden, handelt es sich nicht
um medizinische Fragen. Deshalb muss man sich von dem bisherigen medizinischen
Vorgehen trennen und für die Zukunft neue Überlegungen anstellen.
Eine chirurgische „Heilbehandlung“ ist in keinem Fall
erforderlich – abgesehen von den genannten Ausnahmen – und auch nicht möglich,
weil keine zwingende Kausalität zwischen Genitalaussehen und
Geschlechtsidentität vorliegt (vgl. die Aussagen von Dr. Katinka Schweizer). Es sind kosmetische
chirurgische Eingriffe, die einen besonders großen Aufwand erfordern und oft
mehrmals durchgeführt werden müssen. Es gibt dafür keine medizinische
Begründung, es geht ausschließlich um eine äußere Anpassung der Genitalien.
Damit einhergehend wurde häufig eine Entfernung der Keimdrüsen (Hoden/
Eierstöcke), also eine Kastration, vorgenommen und das nur deswegen, weil das
angestrebte Geschlecht mit den vorhandenen Keimdrüsen nicht zusammen passte.
Prof. Claudia Wiesemann fragte (im April
2006 auf einer Tagung der ev. Akademie Tutzing) beim Thema „intersexuelle
Kinder“ nach den Gründen, Intersexualität als Krankheit einzuordnen: Ist es
gerecht, dieses Problem als Krankheit zu individualisieren? Welche Gründe gibt
es dafür? Medizinische? Wirtschaftliche? Warum akzeptieren wir es nicht als
soziales Problem? Eine mögliche Antwort: weil die Definitionsmacht bisher von
der Medizin ausging. Und die Rechtsprechung folgt deren
Gutachten und Stellungnahmen. Bisher.
Zwischengeschlechtlichkeit und die Behandlung von betroffenen Personen ist
kein medizinisches Problem, sondern ausschließlich ein soziokulturelles,
gesamtgesellschaftliches Problem, das völlig neu konzipiert werden muss. Ich
hoffe, dass die Diskussionen hier dazu beitragen können.
Für Betroffene ist der kulturelle Aspekt, der entscheidend zur Akzeptanz
der zwischengeschlechtlichen Menschen beitragen kann, wichtig. Dass die
„genitalangleichenden Operationen“ einen Vorteil für das Kind bringen, ist in
keiner Studie belegt.
Die Eltern haben vielleicht Angst vor – eingebildetem
– Gerede in der Familie und in der Nachbarschaft. Sie glauben, dass das Kind
verspottet wird. Das darf aber nicht dazu führen, dass dem Kind eine schwere
Körperverletzung zugefügt wird, die Jahre lang andauernde körperliche und psychische Probleme verursacht.
Ist Intersexualität also ein Makel, der vor der Öffentlichkeit tabuartig
versteckt werden und durch folgenschwere Operationen „genital korrigiert“
werden muss? Die Leitlinien der Medizin haben sich von solchen Jahrzehnte alten
Vorstellungen noch nicht völlig distanziert. Dürfen eingebildetes oder
vielleicht auch wahrgenommenes Gerede zum Anlass genommen werden, in extrem
starker Weise in das Selbstbestimmungsrecht eines Individuums einzugreifen, in
dem die Eltern das Gerede mehr fürchten als die körperliche Unversehrtheit des
eigenen Kindes? Können die bereitwillig angebotenen chirurgischen Eingriffe,
die mit dem hohen Risiko eines oft erst viele Jahre später erkennbaren,
körperlichen und psychischen Traumas, den Eltern ihre vielleicht nur
eingebildeten Sorgen nehmen?
Immer noch wird bei einzelnen Kindern der Anlass der
Operationen tabuartig verschwiegen. Die Eltern sind eingebunden in das
Verschweigen der als peinlich offerierten und empfundenen „Krankheit“. Aber
auch wenn die Kinder später ihr Schicksal erfahren, mit ihnen darüber geredet
wird und sie über das grundlegende Eingreifen in ihr Selbstbild
nachdenken, ist das Vertrauen in die Eltern oft schwerwiegend und nachhaltig
gestört. „Wie soll ein intersexuelles Kind jemals wieder irgend jemandem
vertrauen, wenn es erkennt, dass nicht einmal die geliebtesten Menschen, die eigenen
Eltern, es nicht geschützt haben“, schreibt Lucie Veith (am
11.7.2011 um 22:01).
Darf die Genderkonstruktion einer Berufsgruppe, also die Behauptung, dass
es nur Mann oder Frau und nicht nichts dazwischen gibt, dazu führen, dass
Kindern schwere Körperschäden zugefügt werden? Dabei findet man in der Biologie
nur Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus vielen inneren
Wesensmerkmalen zusammensetzt, die irgendwo auf der Spannbreite zwischen den
beiden polaren Extremen männlich und weiblich liegen. Wir wissen, dass typisch
männliche und weibliche Hormone bei beiden Geschlechtern vorkommen. Jeder
Mensch hat in seinem Wesen männliche und weibliche Eigenschaften vereint. Dabei
neigen Frauen mehrheitlich zu weiblichen Attributen und Männer mehr zu
männlichen. Durch die Erziehung in bestimmten Geschlechterrollen kann diese
Entwicklung vielleicht ein wenig variiert werden.
Viele Betroffene fragen, wodurch sich die
„geschlechtsangleichenden Operationen“ von „Genitalverstümmelungen“
nordafrikanischer Ethnien, die wir zu Recht verurteilen, unterscheiden. Es ist
die gleiche fixe Idee, es „richtig“ zu machen. Es ist dort eine Jahrhunderte
alte Tradition, hier ein Jahrzehnte alter medizinischer Brauch, der erst seit
wenigen Jahren hinterfragt wird, aber noch nicht geändert ist. Die Tabuisierung
hiesiger genitalmedizinischer Praktiken hat verhindert, dass die
Öffentlichkeit den „geschlechtsangleichenden Operationen“ ein gleiches Verbot
entgegengesetzt.
Ich kenne keine Begründung – der Öffentlichkeit bzw. aus psychologischer
oder soziologischer Sichtweise –, die diese Eingriffe auch nur annähernd
rechtfertigen können. Es gibt erst recht keine evaluierte (bewiesene) Studie,
die die allgemeine Öffentlichkeit nach der Akzeptanz von intersexuellen
Menschen befragt hat. Aus diesem Grund sollten solche Eingriffe erst dann
durchgeführt werden, wenn die Betroffenen es selbst wollen.
„Generell spricht nichts dagegen“, meint Dr. Oppelt am 12. Juli 2011 hier
im Online-Diskurs. In den letzten Jahren wurden allerdings Studien
veröffentlicht, die sehr hohe körperliche und psychische Beschwerden
nachwiesen.
Prof. Taupitz schreibt (am 19.7.11 um
08:08): „Dafür bedarf es einer Prognose, die je nach Einzelfall mehr oder
weniger unsicher sein kann“. Es ist nicht nur „zukünftiges seelisches Leid“
nach chirurgischen Eingriffen zu erwarten, sondern auch sehr intensives
körperliches Leid. Bei jeder medizinischen Frage gibt es Komplikationen,
vorhergesehene und nicht zu vermeidende sowie unbeabsichtigte. Zu fragen ist:
Welches Ausmaß darf der „Patient“ – in eigenem Entschluss – noch akzeptieren,
wann ist ein erträgliches Maß überschritten? Können die Eltern tatsächlich das
in meinen Augen viel zu hohe Risiko ignorieren und den Operationsauftrag
unterschreiben? Es geht dabei nicht um eine notwendige, wirklich medizinische
Intervention, sondern um kosmetische chirurgische Eingriffe. Gelten für
indizierte medizinische Interventionen die gleichen juristischen Beurteilungen
wie für kosmetische Eingriffe? Darüber muss entschieden werden.
Ich möchte mich Carl Lara anschließen
und fragen: „Ist ein intersexueller Mensch primär
behandlungsbedürftig?“, „Darf darüber überhaupt abgestimmt werden?“ oder
ist die Selbstbestimmung ein eigenes Menschenrecht, bei dem niemand über
ihn_sie entscheiden darf?
Kann man intersexuelle Menschen nicht als Varianten
des Lebens betrachten? Im wiederentdeckten Begriff der Inklusion ist
enthalten, dass Unterschiede der Menschen eben die Normalität darstellen. Die
Ausführungen von Michael Groneberg und Katinka Schweizer zeigen dies
All diese Fragen müssen an die allgemeine
Öffentlichkeit gerichtet werden, auch an Juristen, Ethiker und
Selbsthilfegruppen, damit sie sich für die Rechte der intersexuellen Menschen
einsetzen. Medizinern kommt dabei nicht die erste Kompetenz
zu.
Jeder Eingriff eine Körperverletzung
Prof. Dr. Jochen Taupitz ist geschäftsführender Direktor des
Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht,
Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim und
Mitglied im Deutschen Ethikrat. In diesem Artikel legt er die rechtliche Sicht
auf Aufklärung und Einwilligung zu medizinischen Behandlungen dar und geht der
Frage nach, wann medizinische Maßnahmen rechtmäßig sind.
Jeder Eingriff in den Körper eines Menschen, auch jede
medizinische Behandlung, stellt vom Ansatz her eine Körperverletzung dar. Dies
gilt auch dann, wenn die Maßnahme nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft
kunstgerecht und erfolgreich durchgeführt wird.
Die Körperverletzung kann allerdings gerechtfertigt sein. In
der Regel sind dafür zwei Dinge nötig: Zum einen muss die Maßnahme gemäß den
Regeln der medizinischen Wissenschaft durchgeführt werden. Entscheidend ist der
Stand des Wissens zum Zeitpunkt der Behandlung, nicht etwa derjenige zum
Zeitpunkt eines späteren Rechtsstreits.
Erforderlich ist zum anderen, dass der Patient wirksam in
die Durchführung der Maßnahme eingewilligt hat. Sofern der Patient (z.B. als
Kind) nicht selbstbestimmungsfähig ist, entscheidet an seiner Stelle ein
Vertreter; beim Kind sind die Eltern als gesetzliche Vertreter für die
Entscheidung zuständig.
Die Einwilligung ist nur wirksam, wenn die entscheidungsbefugte
Person zuvor hinreichend über die Maßnahme aufgeklärt wurde. Die Aufklärung
muss in verständlicher Weise über die Art der Krankheit und die ohne Behandlung
drohenden Gefahren, die Art der vorgesehenen Maßnahme sowie ihre Chancen und
ihre Risiken informieren. Gibt es mehrere ernsthaft in Betracht kommende
Maßnahmen, muss der Arzt ausreichend über alle informieren. Wie die Behandlung
selbst, muss auch die Aufklärung dem jeweiligen Stand der medizinischen
Wissenschaft zur Zeit des Eingriffs entsprechen. Verweigert der Patient (oder
sein Vertreter) die Einwilligung, darf die Behandlung nicht durchgeführt
werden. Dies ist Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen und
letztlich seiner Menschenwürde.
Handelt der Arzt nicht gemäß den Regeln der ärztlichen Kunst
oder ohne Einwilligung des Betroffenen, macht er sich wegen Körperverletzung
strafbar; zudem haftet er nach Zivilrecht auf Schadensersatz und
Schmerzensgeld.
Nicht immer herrscht in der Medizin Einigkeit über die
richtige Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes. In diesem Fall muss der
Patient umso deutlicher über die vom Arzt bevorzugte Vorgehensweise und über
mögliche Alternativen informiert werden. Je umstrittener die vorgesehene
Behandlungsweise sich darstellt, desto umfangreicher muss der Arzt den
Einwilligenden darüber in Kenntnis setzen, warum er gerade diesen Weg gehen
möchte. Für den Fall, dass der Arzt einen bislang noch nicht erprobten
Behandlungsansatz verfolgen will, muss er den Patienten insbesondere darüber aufklären,
dass es sich um eine neue Behandlungsmethode handelt, deren Erfolgsaussichten
und Risiken bisher nicht genau abgeschätzt werden können. Bei rein kosmetischen
Operationen, die nicht krankheitsbedingt indiziert sind, ist sogar eine äußerst
sorgfältige und auch schonungslose Aufklärung notwendig.
Sofern die Eltern als gesetzliche Vertreter dem Wohl ihres
Kindes zuwider handeln, indem sie z.B. entweder eine dem Wohl des Kindes
dienende Einwilligung verweigern oder aber eine Einwilligung zu einer Maßnahme
erteilen, die dem Kind voraussichtlich schadet, kann das Familiengericht die
Maßnahmen treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Sofern
notwendig, kann das Familiengericht den Eltern die elterliche Sorge entziehen.
Das Familiengericht muss von Amts wegen eingreifen, wenn es von einer
entsprechenden Gefahr (etwa durch die Information eines Arztes) Kenntnis
erlangt.
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