Montag, 23. Mai 2016

Any intervention no injury, beyond differences hiding normality // Jeder Eingriff eine Körperverletzung,hinter Unterschieden versteckt sich die Normalität!


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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2016

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Hinter Unterschieden versteckt sich die Normalität
Jörg Woweries ist Kinderarzt und war 25 Jahre in der Klinik Berlin-Neukölln überwiegend mit der Betreuung von Neugeborenen beschäftigt. In diesem Artikel stellt er die Notwendigkeit medizinischer Eingriffe an zweigeschlechtlichen Menschen infrage und handelt die Herkunft des medizinischen Standards im Umgang mit Intersexualität ab. Dabei geht er insbesondere auf die psychischen und physischen Langzeitfolgen ein, die durch medizinische Behandlungen im Kindesalter und bei Neugeborenen oftmals entstehen.

Der Ethikrat und das deutsche Parlament haben intensiv über die Zulassung oder Ablehnung der PID (Präimplantationsdiagnotsik) diskutiert. Insbesondere ging es um die Ablehnung der Selektion eines Ungeborenen. Momentan befasst sich der Ethikrat mit der Thematik Intersexualität, mit der Situation von betroffenen Menschen, die nicht in die gesellschaftliche Norm von Geschlecht passen.
Nach der Geburt eines Menschen ändert sich dessen Situation dramatisch: Wenn ein Kind geboren wird, dessen Genitale weder der weiblichen noch der männlichen Norm entspricht, kann die Dramatik der Änderung besonders groß sein. Mediziner bieten an, das Genital durch „genitalangleichende“ chirurgische Maßnamen im äußeren Bild anzupassen. Die Medizin sieht alles, was die dichotome Ordnung der Geschlechtseinteilung in Frage stellt, als abnorm, unnatürlich oder pathologisch an. Die Säuglinge und Kleinkinder werden nach diesem Konzept willkürlich und zwangsweise entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, höchstwahrscheinlich dem weiblichen Geschlecht, weil das operationstechnisch einfacher für den Chirurgen ist. Zu fragen ist hier: Handelt es sich tatsächlich um Abweichungen von einer Norm? Was ist die Norm? Sind uneindeutige Genitale nicht doch Varianten biologischer Vielfalt? Der Sinn der „genitalangleichenden Operationen“ ist anzuzweifeln, denn chirurgische Maßnahmen beeinflussen die selbst empfundene Geschlechtsidentität nicht.
„Ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist ein Recht gegen die normierte Vergeschlechtlichung“, so Prof. Susanne Baer (2010). Die Medizin hilft bei der Verwirklichung dieses Rechtes nicht und die  Juristen halten sich zurück. Prof. Dr. Jochen Taupitz sagt im Online-Diskurs Intersexualität (18. Juli 2011 um 11:58): „Auch hier gilt, …  dass zunächst einmal die Medizin sagen muss, was möglich ist und was (voraussichtlich) das Richtige ist. Ein Jurist kann das nicht beurteilen – und auch ein Gericht ist auf medizinische Expertise angewiesen“.  Wenn es sich um medizinische Fragen handelt, ist das sicher richtig: Das betrifft aber nur die Hormongabe beim Adrenogenitalen Syndrom (AGS) und bei Abflussbehinderungen des Harns. Bei fast allen übrigen chirurgischen Eingriffe, die als „genitalangleichende Operationen“  angeboten werden, handelt es sich nicht um medizinische Fragen. Deshalb muss man sich von dem bisherigen medizinischen Vorgehen trennen und für die Zukunft neue Überlegungen anstellen.

Eine chirurgische „Heilbehandlung“ ist in keinem Fall erforderlich – abgesehen von den genannten Ausnahmen – und auch nicht möglich, weil keine zwingende Kausalität zwischen Genitalaussehen und Geschlechtsidentität vorliegt (vgl. die Aussagen von Dr. Katinka  Schweizer). Es sind kosmetische chirurgische Eingriffe, die einen besonders großen Aufwand erfordern und oft mehrmals durchgeführt werden müssen. Es gibt dafür keine medizinische Begründung, es geht ausschließlich um eine äußere Anpassung der Genitalien. Damit einhergehend wurde häufig eine Entfernung der Keimdrüsen (Hoden/ Eierstöcke), also eine Kastration, vorgenommen und das nur deswegen, weil das angestrebte Geschlecht mit den vorhandenen Keimdrüsen nicht zusammen passte.
Prof. Claudia Wiesemann fragte (im April 2006 auf einer Tagung der ev. Akademie Tutzing) beim Thema „intersexuelle Kinder“ nach den Gründen, Intersexualität als Krankheit einzuordnen: Ist es gerecht, dieses Problem als Krankheit zu individualisieren? Welche Gründe gibt es dafür? Medizinische? Wirtschaftliche? Warum akzeptieren wir es nicht als soziales Problem? Eine mögliche Antwort: weil die Definitionsmacht bisher von der Medizin ausging. Und die Rechtsprechung folgt deren Gutachten und Stellungnahmen. Bisher.
Zwischengeschlechtlichkeit und die Behandlung von betroffenen Personen ist kein medizinisches Problem, sondern ausschließlich ein soziokulturelles, gesamtgesellschaftliches Problem, das völlig neu konzipiert werden muss. Ich hoffe, dass die Diskussionen hier dazu beitragen können.
Für Betroffene ist der kulturelle Aspekt, der entscheidend zur Akzeptanz der zwischengeschlechtlichen Menschen beitragen kann, wichtig. Dass die „genitalangleichenden Operationen“ einen Vorteil für das Kind bringen, ist in keiner Studie belegt.
Die Eltern haben vielleicht Angst vor – eingebildetem – Gerede in der Familie und in der Nachbarschaft. Sie glauben, dass das Kind verspottet wird. Das darf aber nicht dazu führen, dass dem Kind eine schwere Körperverletzung zugefügt wird, die Jahre lang andauernde körperliche und psychische Probleme verursacht.
Ist Intersexualität also ein Makel, der vor der Öffentlichkeit tabuartig versteckt werden und durch folgenschwere Operationen „genital korrigiert“ werden muss? Die Leitlinien der Medizin haben sich von solchen Jahrzehnte alten Vorstellungen noch nicht völlig distanziert. Dürfen eingebildetes oder vielleicht auch wahrgenommenes Gerede zum Anlass genommen werden, in extrem starker Weise in das Selbstbestimmungsrecht eines Individuums einzugreifen, in dem die Eltern das Gerede mehr fürchten als die körperliche Unversehrtheit des eigenen Kindes? Können die bereitwillig angebotenen chirurgischen Eingriffe, die mit dem hohen Risiko eines oft erst viele Jahre später erkennbaren, körperlichen und psychischen Traumas, den Eltern ihre vielleicht nur eingebildeten Sorgen nehmen?
Immer noch wird bei einzelnen Kindern der Anlass der Operationen tabuartig verschwiegen. Die Eltern sind eingebunden in das Verschweigen der als peinlich offerierten und empfundenen „Krankheit“. Aber auch wenn die Kinder später ihr Schicksal erfahren, mit ihnen darüber geredet wird und sie über das grundlegende Eingreifen in ihr Selbstbild nachdenken, ist das Vertrauen in die Eltern oft schwerwiegend und nachhaltig gestört. „Wie soll ein intersexuelles Kind jemals wieder irgend jemandem vertrauen, wenn es erkennt, dass nicht einmal die geliebtesten Menschen, die eigenen Eltern, es nicht geschützt haben“, schreibt Lucie Veith (am 11.7.2011 um 22:01).
Darf die Genderkonstruktion einer Berufsgruppe, also die Behauptung, dass es nur Mann oder Frau und nicht nichts dazwischen gibt, dazu führen, dass Kindern schwere Körperschäden zugefügt werden? Dabei findet man in der Biologie nur Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus vielen inneren Wesensmerkmalen zusammensetzt, die irgendwo auf der Spannbreite zwischen den beiden polaren Extremen männlich und weiblich liegen. Wir wissen, dass typisch männliche und weibliche Hormone bei beiden Geschlechtern vorkommen. Jeder Mensch hat in seinem Wesen männliche und weibliche Eigenschaften vereint. Dabei neigen Frauen mehrheitlich zu weiblichen Attributen und Männer mehr zu männlichen. Durch die Erziehung in bestimmten Geschlechterrollen kann diese Entwicklung vielleicht ein wenig variiert werden.
Viele Betroffene fragen, wodurch sich die „geschlechtsangleichenden Operationen“ von „Genitalverstümmelungen“ nordafrikanischer Ethnien, die wir zu Recht verurteilen, unterscheiden. Es ist die gleiche fixe Idee, es „richtig“ zu machen. Es ist dort eine Jahrhunderte alte Tradition, hier ein Jahrzehnte alter medizinischer Brauch, der erst seit wenigen Jahren hinterfragt wird, aber noch nicht geändert ist. Die Tabuisierung hiesiger genitalmedizinischer Praktiken hat verhindert, dass die  Öffentlichkeit den „geschlechtsangleichenden Operationen“ ein gleiches Verbot entgegengesetzt.
Ich kenne keine Begründung – der Öffentlichkeit bzw. aus psychologischer oder soziologischer Sichtweise –, die diese Eingriffe auch nur annähernd rechtfertigen können. Es gibt erst recht keine evaluierte (bewiesene) Studie, die die allgemeine Öffentlichkeit nach der Akzeptanz von intersexuellen Menschen befragt hat. Aus diesem Grund sollten solche Eingriffe erst dann durchgeführt werden, wenn die Betroffenen es selbst wollen.
„Generell spricht nichts dagegen“, meint Dr. Oppelt am 12. Juli 2011 hier im Online-Diskurs. In den letzten Jahren wurden allerdings Studien veröffentlicht, die sehr hohe körperliche und psychische Beschwerden nachwiesen.
Prof. Taupitz schreibt (am 19.7.11 um 08:08):  „Dafür bedarf es einer Prognose, die je nach Einzelfall mehr oder weniger unsicher sein kann“. Es ist nicht nur „zukünftiges seelisches Leid“ nach chirurgischen Eingriffen zu erwarten, sondern auch sehr intensives körperliches Leid. Bei jeder medizinischen Frage gibt es Komplikationen, vorhergesehene und nicht zu vermeidende sowie unbeabsichtigte. Zu fragen ist: Welches Ausmaß darf der „Patient“ – in eigenem Entschluss – noch akzeptieren, wann ist ein erträgliches Maß überschritten? Können die Eltern tatsächlich das in meinen Augen viel zu hohe Risiko ignorieren und den Operationsauftrag unterschreiben? Es geht dabei nicht um eine notwendige, wirklich medizinische Intervention, sondern um kosmetische chirurgische Eingriffe. Gelten für indizierte medizinische Interventionen die gleichen juristischen Beurteilungen wie für kosmetische Eingriffe? Darüber muss entschieden werden.
Ich möchte mich Carl Lara anschließen und  fragen: „Ist ein intersexueller Mensch primär  behandlungsbedürftig?“, „Darf darüber überhaupt abgestimmt werden?“  oder ist  die Selbstbestimmung ein eigenes Menschenrecht, bei dem niemand über ihn_sie entscheiden darf?
Kann man intersexuelle Menschen nicht als Varianten des Lebens betrachten? Im  wiederentdeckten Begriff der Inklusion ist enthalten, dass Unterschiede der Menschen eben die Normalität darstellen. Die Ausführungen von Michael Groneberg und Katinka Schweizer zeigen dies
All diese Fragen müssen an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtet werden, auch an Juristen, Ethiker und Selbsthilfegruppen, damit sie sich für die Rechte der intersexuellen Menschen einsetzen. Medizinern kommt dabei nicht die erste Kompetenz zu.

Jeder Eingriff eine Körperverletzung
Prof. Dr. Jochen Taupitz ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim und Mitglied im Deutschen Ethikrat. In diesem Artikel legt er die rechtliche Sicht auf Aufklärung und Einwilligung zu medizinischen Behandlungen dar und geht der Frage nach, wann medizinische Maßnahmen rechtmäßig sind.
Jeder Eingriff in den Körper eines Menschen, auch jede medizinische Behandlung, stellt vom Ansatz her eine Körperverletzung dar. Dies gilt auch dann, wenn die Maßnahme nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft kunstgerecht und erfolgreich durchgeführt wird.

Die Körperverletzung kann allerdings gerechtfertigt sein. In der Regel sind dafür zwei Dinge nötig: Zum einen muss die Maßnahme gemäß den Regeln der medizinischen Wissenschaft durchgeführt werden. Entscheidend ist der Stand des Wissens zum Zeitpunkt der Behandlung, nicht etwa derjenige zum Zeitpunkt eines späteren Rechtsstreits.

Erforderlich ist zum anderen, dass der Patient wirksam in die Durchführung der Maßnahme eingewilligt hat. Sofern der Patient (z.B. als Kind) nicht selbstbestimmungsfähig ist, entscheidet an seiner Stelle ein Vertreter; beim Kind sind die Eltern als gesetzliche Vertreter für die Entscheidung zuständig.

Die Einwilligung ist nur wirksam, wenn die entscheidungsbefugte Person zuvor hinreichend über die Maßnahme aufgeklärt wurde. Die Aufklärung muss in verständlicher Weise über die Art der Krankheit und die ohne Behandlung drohenden Gefahren, die Art der vorgesehenen Maßnahme sowie ihre Chancen und ihre Risiken informieren. Gibt es mehrere ernsthaft in Betracht kommende Maßnahmen, muss der Arzt ausreichend über alle informieren. Wie die Behandlung selbst, muss auch die Aufklärung dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit des Eingriffs entsprechen. Verweigert der Patient (oder sein Vertreter) die Einwilligung, darf die Behandlung nicht durchgeführt werden. Dies ist Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen und letztlich seiner Menschenwürde.

Handelt der Arzt nicht gemäß den Regeln der ärztlichen Kunst oder ohne Einwilligung des Betroffenen, macht er sich wegen Körperverletzung strafbar; zudem haftet er nach Zivilrecht auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Nicht immer herrscht in der Medizin Einigkeit über die richtige Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes. In diesem Fall muss der Patient umso deutlicher über die vom Arzt bevorzugte Vorgehensweise und über mögliche Alternativen informiert werden. Je umstrittener die vorgesehene Behandlungsweise sich darstellt, desto umfangreicher muss der Arzt den Einwilligenden darüber in Kenntnis setzen, warum er gerade diesen Weg gehen möchte. Für den Fall, dass der Arzt einen bislang noch nicht erprobten Behandlungsansatz verfolgen will, muss er den Patienten insbesondere darüber aufklären, dass es sich um eine neue Behandlungsmethode handelt, deren Erfolgsaussichten und Risiken bisher nicht genau abgeschätzt werden können. Bei rein kosmetischen Operationen, die nicht krankheitsbedingt indiziert sind, ist sogar eine äußerst sorgfältige und auch schonungslose Aufklärung notwendig.

Sofern die Eltern als gesetzliche Vertreter dem Wohl ihres Kindes zuwider handeln, indem sie z.B. entweder eine dem Wohl des Kindes dienende Einwilligung verweigern oder aber eine Einwilligung zu einer Maßnahme erteilen, die dem Kind voraussichtlich schadet, kann das Familiengericht die Maßnahmen treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Sofern notwendig, kann das Familiengericht den Eltern die elterliche Sorge entziehen. Das Familiengericht muss von Amts wegen eingreifen, wenn es von einer entsprechenden Gefahr (etwa durch die Information eines Arztes) Kenntnis erlangt.



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