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Gerichtsentscheidungen für Transidentische Menschen Wichtig zu wissen!
Gericht: SG
Berlin 51. Kammer
Entscheidungsdatum: 15.03.2016
Aktenzeichen: S
51 KR 2136/13
Dokumenttyp: Urteil
Leitsatz
1. Die Krankenkasse hat die durch die Behandlung eines
hinreichend qualifizierten nichtärztlichen Behandlers entstehenden Kosten für
bei vorliegendem Mann-zu-Frau-Transsexualismus erforderliche
Bartepilationsbehandlungen durch Nadelepilation zu tragen, wenn kein Arzt/keine
Ärztin gefunden werden kann, der/die zu einer entsprechenden Behandlung bereit
wäre.
2. In einem solchen Fall liegt ein Systemversagen vor, das
dazu führt, dass die Behandlung - trotz Arztvorbehalt - auch von einem
nichtärztlichen Behandler, der die Gewähr für eine mindestens gleichwertige
Versorgung bietet, auf Kosten der Krankenkasse durchgeführt werden kann, weil
bei der Bartepilation durch Nadelepilation weder diagnostischen Schwierigkeiten
bestehen noch die Behandlung selbst nennenswerte gesundheitsgefährdende
Komplikationsrisiken in sich birgt.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.
Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2013
verurteilt, der Klägerin einen Betrag von 2528 EUR sowie weitere, in Zukunft
durch Nadelepilationsbehandlung zur Entfernung der Barthaare durch eine
entsprechend qualifizierte Kosmetikerin/einen entsprechend qualifizierten
Kosmetiker (z.B. Frau B.) entstehende Kosten zu erstatten.
Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen
außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin
auf Erstattung von Kosten für Nadelepilationsbehandlungen zur Entfernung von
Barthaaren durch eine Kosmetikerin in Höhe von insgesamt 2528 EUR sowie den
Anspruch auf Erstattung solcher in Zukunft noch entstehenden Kosten.
2
Bei der Klägerin liegt eine Mann-zu-Frau-Transsexualität
vor. Seit Juli 2012 ist die Vornamens- und Personenstandsänderung
rechtskräftig.
3
Im August 2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die
Übernahme der Kosten für geschlechtsangleichende Operationen sowie für
Nadelepilationsbehandlungen. Sie fügte dem Antrag unter anderem einen
Kostenvoranschlag einer Elektrologistin und Heilpraktikerin (Frau B.) bezüglich
durchzuführender Nadelepilationsbehandlungen bei.
4
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme von
Nadelepilationsbehandlungen mit Bescheid vom 19. Oktober 2012 ab. Die Epilation
durch Elektrokoagulation im Gesicht und an den Händen bei krankhaftem und
entstellendem Haarwuchs falle in den Bereich der vertragsärztlichen Versorgung
und könne somit generell vom Kassenarzt erbracht werden. Die kassenärztliche
Vereinigung sei grundsätzlich für die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung
und somit für die Verfügbarkeit von Behandlungsmöglichkeiten zuständig. Sie
fügte eine Übersicht von Ärzten bei, die nach Angaben der zuständigen
kassenärztlichen Vereinigungen Berlin in der Lage seien, die Epilation über die
Versicherungskarte abzurechnen. In Berlin stehe hierfür konkret Herr B. B.,
G.Str. zur Verfügung.
5
Mit Schreiben vom 2. Dezember 2012 wandte sich die Klägerin
erneut an die Beklagte und nahm Bezug auf den Bescheid vom 19. Oktober 2012.
Sie teilte mit, dass sie den empfohlenen Arzt, Herrn B., inzwischen kontaktiert
habe. Sie habe erfahren, dass dieser keine Termine vergeben, die entsprechende
Behandlung max. 5 min pro Woche durchführe und der Abrechnungssatz für 5 min
bei 8,75 EUR liege. Sie habe zudem von einer Bekannten erfahren, dass diese das
Ergebnis der Behandlung durch Herrn B. nicht als zufriedenstellend empfunden
habe, weil Narben entstanden sein. Es sei eine Zumutung, dass keine Termine
vergeben würden, weil dadurch lange Wartezeiten für eine im Verhältnis gesehen
sehr kurze Behandlungszeit entstehen würden. Die Kosmetikerin veranschlage eine
Behandlungsdauer von ca. 250 h im Verlauf von 3-4 Jahren mit einer
wöchentlichen Behandlungszeit von 180-300 min. Herr B. biete lediglich 5
Minuten wöchentlich an. Dies würde einer Behandlungszeit von 60 Jahren
entsprechend. Dies sei ihr nicht zuzumuten. Bei einer solchen Form der
Behandlung würden für die Beklagte höhere Kosten anfallen, hinzu kämen noch
Kosten für eine psychologische Betreuung, da der aktuell bestehende
Leidensdruck dann über die gesamte restliche Lebensspanne der Klägerin andauern
würde. Sie beantrage daher eine Einzelfallentscheidung wegen Systemversagens.
6
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 wertete die Beklagte das
Schreiben der Klägerin vom 2. Dezember 2012 als Widerspruch gegen die Ablehnung
vom 19. Oktober 2012. Sie teilte mit, dass geklärt werden solle, ob alle
rechtlichen Möglichkeiten zu Gunsten der Klägerin ausgeschöpft worden seien.
Die Beklagte gab bei dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ein
sozialmedizinisches Gutachten in Auftrag. Dieses wurde am 25. Januar 2013 nach Aktenlage
erstellt. Begutachtet wurde die Kostenübernahme für geschlechtsangleichende
Maßnahmen insgesamt, das heißt inklusive geschlechtsangleichende Operation
sowie Epilation von Gesicht und Oberkörper. Im Ergebnis wurde sowohl die
geschlechtsangleichende Operation als auch die Epilation der Barthaare als
medizinisch notwendig angesehen. Lediglich die Epilation der Brust sei nicht
notwendig, da diese mit alltagsüblicher Bekleidung kaschiert werden könne.
7
Die Beklagte übernahm mit Bescheid vom 14. Februar 2013 die
Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation. Die Übernahme von Kosten für
eine Nadelepilation durch eine Heilpraktikerin lehnte die Beklagte jedoch mit
Widerspruchsbescheid vom 11. September 2013 unter Hinweis auf den Arztvorbehalt
des § 15 Abs. 1 SGB V ab.
8
Die Klägerin nahm im Zeitraum Januar 2013 bis September 2013
bei Frau B. Epilationsbehandlungen für insgesamt 1120 EUR in Anspruch.
9
Die Klägerin hat gegen den Bescheid vom 19. Oktober 2012 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2013 am 14. Oktober
2013 Klage erhoben, mit der sie die Erstattung der bereits angefallenen Kosten
sowie die Erstattung von in Zukunft anfallenden Kosten für die Nadelepilation
durch eine Heilpraktikerin oder eine ähnlich qualifiziert Person durchsetzen
möchte.
10
Der von der Beklagten im Antragsverfahren benannte Arzt Dr.
B. hat auf schriftliche Anfrage des Gerichts am 19. September 2014 mitgeteilt,
dass er keine Elektrokoagulation mehr vornehme. Bezüglich der Frage, ob nach
seiner Kenntnis in Berlin Vertragsärzte die Nadelepilation durchführen, hat er
lediglich auf die Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung hingewiesen
und darauf hingewiesen, dass die Nadelepilation nicht zu den Kernleistungen der
Dermatologie gehöre und daher von Vertragsärzten nicht angeboten werden müsse.
Hinter der abrechenbaren EBM-Position würden vollkommen verschiedene Leistungen
gehören, so dass von der Abrechnung der Position nicht auf die erbrachte
Leistung geschlossen werden könne.
11
Die Kassenärztliche Vereinigung hat auf gerichtliche
Nachfrage mit Schreiben vom 10. März 2015 und 15. April 2015 mitgeteilt, ein
konkreter Arzt, der Nadelepilation bezüglich Barthaaren durchführe, sei nicht
bekannt. Wegen der Gestaltung der Gebührenposition könne nicht ermittelt
werden, welche Praxen allein die Epilation durch Elektrokoagulation abrechnen.
Da die Gebührenposition nur einmal am Tag abrechenbar sei, bis zum Eintreten
des Behandlungserfolges aber eine Vielzahl an Einzelbehandlungen erforderlich
sei, ergebe sich eine Behandlungsdauer, die für den jeweiligen Patienten
unzumutbar sei. Daher werde nach dortigem Kenntnistand bei den Kostenträgern
häufig um eine Übernahme der Kosten außerhalb des EBM gebeten.
12
Die Beklagte hat auf die Aufforderung des Gerichts vom 9.
Juli 2015, konkrete Privatärzte in Berlin und Umgebung zu benennen, die die
begehrte Epilation durchführen könnten, mit Schreiben vom 16. September 2015
ein Schreiben der Ärztekammer Berlin vom 10. September 2015 vorgelegt, in
welchem diese bezüglich einer möglichen privatärztlichen Behandlung durch
Nadelepilation lediglich auf die online-Arztsuche der Kassenärztlichen
Vereinigung verwiesen hat.
13
Auf die Aufforderung des Gerichts an die Beklagte vom 22.
September 2015, konkrete Ärzte zu benennen, die die begehrte Behandlung tatsächlich
anbieten, hat die Beklagte lediglich ein neuerliches Schreiben der
Kassenärztlichen Vereinigung vom 15. Oktober 2015 vorgelegt, welches dem
Schreiben vom 10. März 2015 weitgehend gleicht. Ein konkreter Arzt wird darin
nicht benannt. Es wird darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der
Leistungserbringung der Epilation durch Elektrokoagulation keine Beschwerden
und damit auch keine Sicherstellungsprobleme bekannt seien.
14
Die Klägerin hat im Dezember 2015 erneut bei Frau B.
Epilationsbehandlungen im Umfang von 654 Minuten für insgesamt 1398 EUR in
Anspruch genommen.
15
Sie trägt vor, dass sie von der Beklagten auch auf
telefonische Nachfrage nach möglichen Behandlern nur Herrn B. benannt bekam.
Auch eine eigene intensive Internetrecherche sei ergebnislos verlaufen.
16
Die Klägerin beantragt,
17
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Oktober
2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2013 zu
verurteilen, ihr einen Betrag von 2528 EUR sowie weitere, in Zukunft durch
Nadelepilationsbehandlung zur Entfernung der Barthaare durch eine entsprechend
qualifizierte Kosmetikerin/einen entsprechend qualifizierten Kosmetiker (z.B.
Frau B.) entstehende Kosten zu erstatten.
18
Die Beklagte beantragt,
19
die Klage abzuweisen.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des
Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand
der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte und der
Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
21
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und
Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 SGG zulässig und begründet.
22
Die Klägerin hat einen Anspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V auf
Erstattung der durch Nadelepilationsbehandlung zur Entfernung der Barthaare
durch eine entsprechend qualifizierte Kosmetikerin/einen entsprechend
qualifizierten Kosmetiker bereits entstandenen und in Zukunft noch entstehenden
Kosten.
23
Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung ist
grundsätzlich bestimmt von dem in § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V verankerten
Sachleistungsprinzip. Danach erhalten die Versicherten „die Leistungen als
Dienst- und Sachleistungen“ d.h. als Naturalleistung und damit – abgesehen von gesetzlichen
Zuzahlungsregelungen – grundsätzlich kostenfrei, vorfinanzierungslos und
risikolos. Die Verschaffungspflicht von Naturalleistungen gewährleistet, dass
der Versicherte eine notwendige Leistung der Krankenbehandlung erhält, ohne sie
sich selbst erst beschaffen und insbesondere ohne bei ihrer Inanspruchnahme
eine unmittelbare finanzielle Gegenleistung erbringen zu müssen (BSG, Urt. v.
18.07.2006, Az. B 1 KR 24/05 R, m.w.N., zit. nach juris). Von diesem
Sachleistungsprinzip darf nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen
abgewichen werden.
24
Anspruchsgrundlage einer solchen (ausnahmsweise) zu
gewährenden Kostenerstattung für selbst beschaffte Leistungen ist § 13 Abs. 3
Satz 1 SGB V.
25
§ 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V lautet: „Konnte die Krankenkasse
eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine
Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die
selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in
der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.“
26
§ 13 Abs. 3 S. 1 SGB V erfasst damit Fälle des sogenannten
Systemversagens des Leistungserbringungsrechts (so zB Joussen in: Beck´scher
Onlinekommentar, § 13 SGB V., 40. Auflage, Stand 1.12.2015, Rz. 14 mwN). Dort
heißt es weiter: „Sie [die Krankenkassen] haben durch das System des
Leistungsrechts einen Sicherstellungsauftrag übertragen bekommen. Sie müssen
sicherstellen, dass dem Versicherten im Bedarfsfall Leistungserbringer zur
Verfügung stehen, die die Sach- oder Dienstleistungen, die die Kasse ihrem
Mitglied erbringen muss, auch tatsächlich erbringen können. Kommt die Kasse
dieser Verpflichtung nicht nach und muss der Versicherte sich daher selber um
die Leistungen bemühen, entsteht ihm dadurch in Höhe der von ihm geleisteten
Kosten ein Schaden. Diesen hat die Kasse dann zu ersetzen, auf Grund des ihr
übertragenen Sicherstellungsauftrages auch verschuldensunabhängig.“
27
Ein solcher Fall des § 13 Abs. 1 S. 1 Alternative 1 SGB V
liegt hier vor. Die Beklagte konnte eine (unaufschiebbare) Leistung nicht
(rechtzeitig) erbringen. Ein Fall, in dem die Krankenkasse eine Leistung, auf
die ein Anspruch besteht, im Sachleistungssystem (mangels Vorhandenseins bzw.
Auffindbarkeit eines zur Leistung bereiten vertraglichen Leistungserbringers)
überhaupt nicht erbringen kann, ist als Fall der nicht rechtzeitigen
Leistungserbringung anzusehen, bei dem dem Tatbestandsmerkmal „unaufschiebbar“
jedoch keine eigenständige Bedeutung zukommt, da dem Versicherten ein
unbegrenztes oder jedenfalls zeitliches völlig ungewisses Aufschieben der
Verwirklichung seines Leistungsanspruches nicht zuzumuten ist.
28
Die Klägerin hat vorliegend einen Anspruch auf die begehrten
Epilationsbehandlungen (dazu unten Ziffer 1)), die Beklagte kann die Leistung
im Sachleistungssystem nicht erbringen (dazu unten Ziffer 2)). Der
Inanspruchnahme einer entsprechend qualifizierten Kosmetikerin bzw. einem aus
einer solchen Inanspruchnahme resultierenden Kostenerstattungsanspruch steht
auch der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 S. 1 SGB V nicht entgegen (dazu unter
Ziffer 3)).
29
1) Der Anspruch der Klägerin auf die begehrten Epilationsbehandlungen
– der zwischen den Beteiligten im Übrigen nicht streitig ist – ergibt aus § 27
Abs. 1 S. 1 SGB V (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11. September 2012, Az:
B 1 KR 3/12 R, juris, dort Rz 10ff). Bei einem vorliegenden Transsexualismus
ist die Grenze bzw. das erforderliche Ausmaß der Behandlungen zur Veränderung
des Erscheinungsbildes dabei danach zu bestimmen, dass ein Zustand erreicht
wird, der aus Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des
empfundenen Geschlechts deutlich angenähert ist (vgl. Bundessozialgericht aaO,
Rz 21-23). Ein männlicher Bartwuchs im Gesicht stünde einer solchen deutlichen
Annährung an ein weibliches Erscheinungsbild aber entgegen. Der Medizinische
Dienst der Krankenkassen hat deshalb in seinem Gutachten vom 25. Januar 2013
einen entsprechenden Anspruch der Klägerin bezüglich der Bartepilation auch
festgestellt.
30
2) Die Beklagte kann die begehrte Behandlung im
Sachleistungssystem nicht erbringen. Denn Ein ärztlicher Behandler steht im
Raum Berlin nicht zur Verfügung bzw. ist nicht auffindbar. Die Beklagte hat der
Klägerin zur Erfüllung ihres Leistungsanspruches lediglich einen Arzt benannt,
der auf Befragung durch das Gericht mitgeteilt hat, dass er eine entsprechende
Behandlung nicht mehr durzuführe. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben eine
Internetrecherche intensiv aber ergebnislos betrieben. Die Ermittlungen des
Gerichts bezüglich zur Verfügung stehenden Ärzten durch Nachfrage bei dem von
der Beklagten angegebenen Arzt und der Kassenärztlichen Vereinigung hat keinen
konkreten, behandlungsbereiten Arzt ergeben. Auch die Beklagte hat im
gerichtlichen Verfahren nach entsprechender Aufforderung des Gerichts keinen
konkreten Arzt benennen können, obwohl sie ausweislich des Schriftsatzes vom 3.
September 2015 bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, dem Berufsverband
Deutscher Dermatologen und bei der Ärztekammer um Unterstützung gebeten hatte.
31
Bei dieser Sachlage ist von einem Systemversagen auszugehen,
welches zu einem Erstattungsanspruch bezüglich von Behandlungskosten bei einem
ausreichend qualifizierten nichtärztlichen Behandler führt (vgl.
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8. Mai 2014, Az: L 16 KR
453/12, juris, Rz 49 und SG Düsseldorf, Urteil vom 11.12.2007, Az: S 4 KR 78/07,
juris, Rz 22, SG Mannheim, Urteil vom 27.03.2015, Az. S 9 KR 3123/14., juris,
Rz 33).
32
Die Kammer sieht sich in ihrer Annahme einer ärztlichen
Versorgungslücke bezüglich der Bartepilation auch dadurch bestätigt, dass
bereits in den „Grundlagen zur Begutachtung bei Geschlechtsangleichenden
Maßnahmen“ des GKV-Spitzenverbandes und des Medizinischen Dienstes des
Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen vom 19.5.2009 (dort auf Seite 20)
darauf hingewiesen wird, dass häufig ein ärztlicher Behandler nicht zu finden
ist und daher die Leistungen auch in spezialisierten außervertraglichen
Einrichtungen angeboten werden. Dort heißt es: „Angesichts des
Behandlungsumfangs kommt es bei der praktischen Umsetzung einer intensiven
Epilation bei Mann-zu-Frau Transsexuellen im vertragsärztlichen Rahmen
erfahrungsgemäß zu Schwierigkeiten. Beispielsweise treten dahingehend Probleme
auf, dass Ärzte die Leistung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung nicht
im notwendigen Umfang erbringen, z. B. weil die EBM-Bewertung den Aufwand nicht
decken würde. Die Epilation wird zudem bei Mann-zu-Frau Transsexuellen auch in
entsprechend spezialisierten, außervertraglichen (kosmetischen) Einrichtungen
angeboten. Der Gutachter beurteilt deshalb nur die medizinische Notwendigkeit.“
33
3) Dem Kostenerstattungsanspruch der Klägerin steht auch
nicht der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 S. 1 SGB V entgegen. Danach werden
ärztliche Behandlungen von Ärzten erbracht. Diese Vorschrift steht aber in
einem Fall wie dem vorliegenden, in dem ja das Systemversagen gerade darin
begründet liegt, dass sich ein ärztlicher Behandler für die Behandlung, auf die
ein Anspruch besteht, nicht finden lässt, einem Kostenerstattungsanspruch nicht
entgegen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – eine Leistung betroffen
ist, die von ihrer medizinischen Komplexität her nur dem Randbereich der
(hautfach)ärztlichen Tätigkeit zuzuordnen ist und die ganz überwiegend von
fachlich auf dieses Gebiet spezialisierten und entsprechend qualifizierten
Personen (Kosmetikern bzw. Elektrologisten) angeboten wird (so auch
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen aaO, Rz 49).
34
Soweit das Landessozialgericht Baden-Württemberg in seinem
Urteil vom 27.01.2009, L 11 KR 3126/08, juris, Rz 25ff, insbesondere 28) dies
insbesondere im Hinblick darauf, dass der Kostenerstattungsanspruch nicht
weiter reiche als der entsprechende Sachleistungsanspruch, sowie in Hinblick
auf die Vorschrift des § 13 Abs. 2 S. 5 und 6 SGB V (im Urteil des
Landessozialgerichts aufgrund der damaligen Fassung des § 13 Abs. 2 SGB V
bezeichnet als S. 6 und 7) anders beurteilt hat, folgt dem die Kammer aus
folgenden Gründen nicht:
35
Richtig ist zwar, dass der Kostenerstattungsanspruch nicht
weiter reicht als der entsprechende Sachleistungsanspruch. Er setzt voraus, dass
die selbst beschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die
Krankenkassen allgemein in natura als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen
haben (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 8. Mai 2004, Az: B 1 KR 21/02 R,
juris, Rz 13). Vorliegend ist die Behandlung der Nadelepilation aber von einer
EBM-Position erfasst und damit Teil der von den Krankenkassen in natura zu
erbringenden Dienstleistungen. Die Grenzen des Sachleistungsanspruches sind
damit bezüglich der Behandlungsmethode eingehalten.
36
In Hinblick auf den Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 S. 1 SGB V
ist zu beachten: Gerade die Vorschrift des § 13 Abs. 2 S. 5 und 6 SGB V zeigt
nach Auffassung der Kammer, dass in bestimmten Fällen ärztliche Leistungen auch
ausnahmsweise von nichtärztlichen Dienstleistern erbracht werden können.
37
§ 13 Abs. 2 S. 5 und 6 SGB V lauten:
38
„Nicht im Vierten Kapitel genannte Leistungserbringer dürfen
nur nach vorheriger Zustimmung der Krankenkasse in Anspruch genommen werden.
Eine Zustimmung kann erteilt werden, wenn medizinische oder soziale Gründe eine
Inanspruchnahme dieser Leistungserbringer rechtfertigen und eine zumindest
gleichwertige Versorgung gewährleistet ist.“
39
Zwar enthält die Gesetzesbegründung zu § 13 Abs. 2 S. 5 und
6 SGB V (damals S. 3 und 4, BT-Drs. 15/1525, S. 80 zu Nr. 4 a) aa)) folgenden
Passus: „Nicht im Vierten Kapitel genannte Berufsgruppen, die nicht die dort
aufgeführten Voraussetzungen zur Teilnahme an der Versorgung der Versicherten
zu Lasten der Krankenkassen erfüllen, wie z. B. Heilpraktiker, können auch
weiterhin nicht in Anspruch genommen werden.“
40
Allerdings findet diese (erhebliche) Einschränkung aus der
Gesetzesbegründung in dem Gesetzeswortlaut keine eindeutige Entsprechung. Der
Gesetzgeber hat im Gesetzestext bezüglich der Qualitätssicherung allein darauf
abgestellt, dass eine zumindest gleichwertige Versorgung gewährleistet sein
muss. Dies mag in Fällen, in denen komplexe medizinische Behandlungen im Raum
stehen, im Zusammenhang mit der Gesetzesbegründung so zu lesen sein, dass von
einer gleichwertigen Versorgung nur ausgegangen werden kann, wenn der jeweilige
Leistungserbringer vom System her den Qualitätssicherungsanforderungen des
Vierten Kapitels unterworfen ist. In Fällen einfacher Behandlungen, in denen
weder diagnostische Schwierigkeiten bestehen noch die Behandlung selbst
nennenswerte gesundheitsgefährdende Komplikationsrisiken in sich birgt, kann
diese Anforderung jedoch nicht in den Wortlaut hineingelesen werden. Dies gilt
insbesondere dann, wenn der Anspruch auf die Behandlung gerade ohne
Inanspruchnahme eines nichtärztlichen Behandlers überhaupt nicht realisierbar
wäre. In solchen Fällen muss eine zumindest gleichwertige Versorgung schon dann
angenommen werden, wenn der konkret im Raum stehende Leistungserbringer
persönlich aufgrund seiner Qualifizierung und Berufserfahrung die Gewähr für
eine gleichwertige Versorgung bietet.
41
Auch der GKV-Spitzenverband und der Medizinische Dienst des
Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen scheinen im Übrigen nicht davon
auszugehen, dass eine Durchführung der Bartepilation zu Lasten der
Krankenkassen durch spezialisierte außervertragliche kosmetischen
Leistungserbringer gegen den Arztvorbehalt verstoßen würde. In den oben
genannten Begutachtungsrichtlinien heißt es auf Seite 20: „Die Epilation wird
zudem bei Mann-zu-Frau Transsexuellen auch in entsprechend spezialisierten,
außervertraglichen (kosmetischen) Einrichtungen angeboten. Der Gutachter
beurteilt deshalb nur die medizinische Notwendigkeit.“ Offensichtlich soll die
Entscheidung über den Behandler (ganz im Sinne der hiesigen Lesart des § 13
Abs. 2 S. 6 SGB V) dem sachgerechten Ermessen der Kasse überlassen bleiben,
ohne dass eine Behandlung in kosmetischen Spezialeinrichtungen von vornherein
ausgeschlossen sein soll.
42
Die Kammer hat im vorliegenden Fall keinerlei Zweifel, dass
die Qualität der Behandlung durch die von der Klägerin gewählte Behandlerin
Frau B. zumindest die Qualität einer entsprechenden (hautfach)ärztlichen
Versorgung erreicht. Frau B., die eine auf die Elektroepilationsbehandlung
spezialisierte Firma betreibt (Firmenname „E.“), absolvierte ausweislich ihres
Internetauftrittes im Jahr 1982 ihre Ausbildung zur Arzthelferin und arbeitet
noch heute unter anderem als Arzthelferin. Sie hat zudem eine Ausbildung als
Heilpraktikerin. Seit 2001 hat sie eine Ausbildung zur Elektrologistin abgeschlossen
und arbeitet seitdem ununterbrochen als Elektrologistin. Sie verfügt damit über
mehr als zehn Jahre entsprechender Berufserfahrung. Es bestehen vor diesem
Hintergrund keine Zweifel, dass die hier strittige Bartepilation durch die von
der Klägerin gewählte Behandlerin eine zumindest gleichwertige Versorgung im
Vergleich zu einer Bartepilation durch einen Hautarzt darstellt. Letzterer
dürfte im Gegenteil im Regelfall wenig praktische Erfahrung im Bereich der
Eletrokoagulation besitzen und bei dieser Behandlung, bei der die praktische
Geschicklichkeit von großer Bedeutung ist, im Regelfall nicht zwingend die
Gewähr für eine optimale Behandlung bieten.
43
Wegen der erforderlichen weiteren Behandlungen war die
Beklagte (dem klägerischen Antrag entsprechend) auch bereits jetzt durch Urteil
zur Erstattung entsprechender in Zukunft anfallender Kosten zu verurteilen.
44
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt hier
dem Ausgang in der Sache. Gründe für eine abweichende Verteilung der Kostenlast
sind vorliegend nicht erkennbar.
45
Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1
Nr. 1 S. 1 SGG. Denn der Wert des Beschwerdegegenstandes liegt nicht unter 750
EUR.
Quelltext: http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/portal/t/1e8m/bs/10/page/sammlung.psml;jsessionid=A11843B5C08A4E13E29F27C300DE3114.jp15?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE160010029&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint
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