Freitag, 18. Mai 2018

"Wir sind kein drittes Geschlecht!"

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2018
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"Wir sind kein drittes Geschlecht!"

Zum Internationalen Tag gegen Homo- und Transphobie. EMMA hat mit der international renommierten australischen Männerforscherin Raewyn Connell gesprochen. Sie hieß früher Robert und erklärt: Als Mann-zu-Frau-Transsexuelle erlebt man im Patriachat eine Art "Downgrade". Und das nicht nur wegen respektloser Sprüche auf der Straße.

Sie haben ein Standardwerk zur „Konstruktion von Männlichkeit“ geschrieben, wissen also, dass Geschlecht konstruiert ist. Sie sind 1944 als Mann geboren, haben jedoch Mitte der 2000er Jahre mit dem begonnen, was man „Transition“ nennt, und leben seither auch körperlich als Frau. Warum?
So lange ich zurückdenken kann, war da seit meiner Kindheit etwas merkwürdig falsch mit meiner Position in der Geschlechterwelt. Als Teenager wurde mir die Sache schließlich klar: Ich war ein Mädchen, kein Junge. Und ich musste lernen, damit zu leben. Ich hatte einen männlichen Körper und der stand im Widerspruch zu dem, was ich innerlich fühlte. Und das war ein sehr ernsthaftes Problem und für mich als junger Mensch eine im Grunde nicht lösbare Situation. Damals war Transsexualität noch kein Thema. Ich darf daran erinnern, dass wir von den 1950er Jahren sprechen! (lacht) In Deutschland war das die Ära Adenauer. 

Das australische Pendant war Sir Robert Menzies, ein Anhänger der britischen Monarchie. Es gab damals überhaupt keine Sprache, um diesen „Geschlechts-Widerspruch“ (gender contradiction) zu benennen: Eine junge transsexuelle Frau wie ich wusste zwar schon damals, dass sie eine Frau ist. Ihr ist aber klar, dass sie einen männlichen Körper hat und dass andere Menschen sie als Jungen sehen. Und das ist etwas anderes als die Idee von „Gender Fluidity“, also der Durchlässigkeit von Geschlecht. Oder die Vorstellung einer „ungegenderten“ Identität, also der Nicht-Festlegung auf ein bestimmtes Geschlecht.

Sie sagen: Ich haben Ihr Geschlecht nicht „gewechselt“ (change of gender), sondern Ihr Geschlecht „bestätigt“ (gender affirmation).
Das ist eine Sache, die ich den Menschen oft erkläre: Was bei dem passiert, was wir „Transition“ nennen, ist kein Geschlechtswechsel (sex change), sondern es geht um die Sichtbarmachung einer Realität, die im eigenen Leben schon eine sehr lange Zeit präsent war.

In den 1950er Jahren waren die Geschlechterrollen noch sehr eng. Es war für Sie praktisch unmöglich, sich als biologischer Junge „wie ein Mädchen“ zu verhalten, also zum Beispiel Röcke zu tragen oder sich zu schminken. Heute wäre das immerhin etwas einfacher. Wenn Sie damals diese Freiheit gehabt hätten, wäre eine operative Geschlechtsumwandlung dann nötig gewesen? Anders gefragt: Wie wichtig ist für einen transsexuellen Menschen die Veränderung des Körpers durch chirurgische oder hormonelle Eingriffe?

Ich habe mich in meiner Arbeit ja viel mit Gendertheorien beschäftigt. Die „Verkörperung“ (embodiment) ist ein zentraler Begriff in der Gender-Frage. Gender bezieht sich immer auf den Körper, auch wenn es nicht von ihm bestimmt ist. Der Körper ist in allen Gender-Fragen sehr wichtig; sei es beim Thema Gewalt, sei es bei der geschlechtsbedingten Arbeitsteilung oder eben auch bei der sehr geringen Zahl von Menschen, die transsexuell oder transgender sind. Wenn dieser Körper- Widerspruch auftaucht, so wie es bei mir als junger Mensch der Fall war, dann muss die Antwort darauf den Körper einbeziehen. Man kann diesen Konflikt nicht rein mit seiner Vorstellungskraft lösen. Einen Widerspruch, der so tief geht, kann man nicht nur auf der symbolischen Ebene behandeln. Für die meisten transsexuellen Frauen ist nicht nur die Veränderung ihres sozialen Status‘, sondern auch die Veränderung ihres Körpers Teil ihrer „Transition“. Sicher, einige schaffen es, einen anderen Platz in der Geschlechterordnung einzunehmen, ohne ihren Körper zu verändern. Es ist wunderbar, wenn sie das schaffen! Denn die medizinische Behandlung hat sehr ernste Auswirkungen auf den Körper. Nicht nur die chirurgischen Eingriffe. Aus meiner Sicht sind die Folgen der Hormonbehandlung noch gravierender. Und wenn man das vermeiden kann, sollte man es tun!

Aber Sie konnten es nicht vermeiden?


Nein. Ich gehöre zu den Menschen, für die diese Dimension so fundamental war, dass ich das Risiko und die Schmerzen in Kauf genommen habe. Das ist nicht lustig. Wenn ich mit jungen Leuten darüber spreche, sage ich ihnen immer: Wenn ihr es vermeiden könnt, vermeidet es! Das ist keine Frage von Lifestyle. Klar, wenn du absolut sicher bist, dass du das tun musst, dann musst du es tun. Aber du wärst verrückt, es zu tun, wenn es auch anders geht. Das ist so wie bei jedem anderen medizinischen Eingriff. Abgesehen davon, geht es auch um eine soziale Frage: Die Behandlung Transsexueller absorbiert ja Ressourcen im Gesundheitssystem. ÄrztInnen und Pflegepersonal könnten in der Zeit auch was Anderes tun. Darüber wird in der Literatur über Transsexualismus bisher aber wenig diskutiert. Überhaupt sind solche Eingriffe ja eine Frage des Wohlstands. 

In armen Ländern kann sie sich niemand leisten. In Entwicklungsländern, zum Beispiel in Lateinamerika, gibt es Trans-Gruppen, die am Rande der Gesellschaft leben. Viele verdienen ihr Geld in der Sexindustrie und leben in der Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden oder an Aids zu sterben. Wie viele von denen können eine Geschlechtsumwandlungs- OP machen? So gut wie niemand. Sie suchen sich dann andere Wege und lassen sich zum Beispiel Silikon in die Brust spritzen. Aber arm wie sie sind, bekommen sie billiges Industriesilikon. Das ist nicht steril und viele sterben daran.

Sie leben in Australien und sind eine international renommierte Wissenschaftlerin. Dennoch haben Sie ihre „Transition“ erst spät vollzogen, da waren Sie 63. Warum?
Ich bin protestantisch erzogen worden und wir ProtestantInnen legen keine Beichten ab (lacht). Natürlich waren die Menschen, mit denen ich eng zu tun hatte, von meiner Situation mitbetroffen. Doch meine langjährige Partnerin Pam und ich haben Wege gefunden, damit zurechtzukommen, ohne dass ich eine komplette Transition gemacht habe. Pam war in den 1970er und 1980er Jahren Aktivistin in der Women‘s Liberation und hat mich mit ihrer Liebe und ihrer Unterstützung durch diese Zeit getragen. Als sie dann vor 18 Jahren an Brustkrebs starb, musste ich einen neuen Weg finden. Das habe ich dann getan.

Wie waren die Reaktionen Ihrer Umwelt darauf?
Meine Familie hat mich unglaublich unterstützt: Meine Schwestern und unsere Tochter Kylie, die während der Transition und den Aufs und Abs danach ein Fels in der Brandung für mich war. Als ich die Transition öffentlich gemacht habe, gab es Unterstützung von vielen Frauen, auch von meinem Netzwerk feministischer Kolleginnen und Freundinnen. Aber nicht alle Feministinnen waren begeistert. Natürlich konnte nicht jeder in meinem Leben mit meiner Veränderung umgehen. Die Transition ist für andere Menschen eine schrecklich schwierige Sache. Beziehungen zu anderen haben immer auch mit dem Geschlecht zu tun und müssen neu aufgebaut werden. Das ist harte Arbeit und braucht Zeit. Und es ist nicht nur Arbeit für den oder die Transsexuelle, sondern eben auch für die anderen. 

Und wenn es in meiner privilegierten Situation schon so schwierig ist, wie muss es dann für andere Menschen sein? Vor allem für Jüngere, die kein festes Einkommen haben und vielleicht auch keine Familie, weil die ablehnt, was sie tun. Auch heute wachsen viele junge Transgender immer noch in einer Welt auf, in der es keine Sprache für sie gibt. Das bringt Traumatisierungen mit sich. Wir wissen, dass die Rate derer, die Selbstmordgedanken haben oder tatsächlich Selbstmord begehen, ziemlich hoch ist. Es gibt Studien, die besagen, dass 60 bis 70 Prozent der transsexuellen Menschen oder Transgender in Erwägung gezogen haben, sich umzubringen. Wie viele es dann tatsächlich tun, wissen wir nicht, weil das in den Selbstmord-Statistiken nicht auftaucht.

Sie haben einmal geschrieben, als Mann-zu-Frau-Transsexuelle im Patriarchat erlebe man eine Art „Downgrade“.
Ich bin Professorin, ich bin in meinem Fachgebiet sehr bekannt, ich besitze mein eigenes Haus. Das unterscheidet mich von den meisten transsexuellen Frauen. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Aber auch ich wurde respektlos behandelt, bin auf der Straße belästigt worden und hatte ein paar Erfahrungen, die alle Frauen in der Öffentlichkeit machen. Plus wahrscheinlich ein bisschen zusätzliche Anfeindungen von Leuten, die Probleme mit Menschen haben, die geschlechtlich uneindeutig aussehen. Es gibt übrigens Forschung über die ökonomischen Folgen für transsexuelle Menschen. Transition bedeutet zunächst immer einen finanziellen Verlust: Die Menschen verlieren ihren Job, haben Zeiten der Instabilität und ein geringeres Einkommen. Kurzfristig gilt das für Transmänner genauso wie für Transfrauen. Aber langfristig stehen sich die Frau-zu-Mann-Transsexuellen finanziell besser als vorher. Mann-zu-Frau- Transsexuelle hingegen verlieren im Schnitt ein Drittel ihres Einkommens. Für eine Feministin ist dieses Ergebnis nicht überraschend.

Beeinflusst Ihre männliche Sozialisation eigentlich Ihr heutiges Leben als Frau?
Naja, zunächst muss man ja feststellen, dass meine Sozialisation als Junge nicht wirklich funktioniert hat (lacht). Aber gut, einige Dinge schon. Jungen weinen ja nicht, und in Australien gilt diese Regel ganz besonders. Ich bin also mit einem strikten Wein-Verbot aufgewachsen. Und als Erwachsener habe ich bis zu meiner Transition tatsächlich nicht geweint. Das hat sich geändert. Was sich nicht geändert hat, ist mein Verhältnis zur Arbeit. Das hat vermutlich nicht nur mit meiner männlichen, sondern auch mit meiner protestantischen Sozialisation zu tun. Da gibt es ja ein bestimmtes Arbeitsethos und ich habe mich meinem Beruf sehr verschrieben.

Sie waren immer Feministin, auch als Mann. Doch feministisches Bewusstsein geht ja keineswegs mit der Transsexualität automatisch einher. Im Gegenteil. Caitlyn Jenner, in ihrem vorherigen Leben ein berühmter Sportler, posierte auf dem Cover von Vanity Fair in einer weißen Corsage; die transsexuelle Schauspielerin Laverne Cox posierte nackt auf dem Cover von Allure. Was sagen Sie dazu?
Ich finde es immer schmerzlich, wenn Feministinnen transsexuelle Frauen attackieren. Ich verstehe mich selbst seit 40 Jahren als Feministin. Das ist meine politische Welt. Es ist schon schwer genug, diesen Weg im Privaten zu gehen. Wie muss es sein, wenn die ganze Zeit Kameras auf einen gerichtet sind? Diese Transfrauen können nicht immer alles richtig machen. Ich habe die größte Sympathie für Menschen, die es versuchen, und wenn sie dabei Fehler machen – wer macht keine Fehler? Ich gehöre zu einer Generation, die sich über Sexismus in den Medien aufgeregt hat. Diesen Sexismus gibt es natürlich immer noch und ja, die Darstellung einiger transsexueller Frauen ist sexistisch und unangenehm, und das ist eine schlechte Nachricht. Aber ich würde nicht den transsexuellen Frauen die Schuld daran geben, sondern den Massenmedien, die immer sexistischer werden. Ich stimme mit der Kritik an sexistischen Stereotypen völlig überein. Ich finde nur nicht, dass es politisch Sinn macht, eine Gruppe Frauen auszuschließen, die versuchen, mit einer schwierigen Situation zurechtzukommen, so gut sie können.

Der Konflikt zwischen manchen Transsexuellen und Feministinnen scheint allerdings nicht nur individueller Natur zu sein. Es gibt auch ideologische Konflikte. So wurde am Mount Holyoke College in Massachusetts die Aufführung von Eve Enslers „Vagina Monologen“ abgesagt, weil eine Gruppe Transsexueller das Stück als „transphob“ bezeichnet hatte. Begründung: Es gebe auch Menschen, die sich als Frau definieren, ohne eine Vagina zu haben.

Ich kenne die konkreten Fälle nicht, aber den Hintergrund, vor dem sich das alles abspielt. In den 1990er Jahren hat Judith Butler mit ihrem Buch „Gender Trouble“ das Konzept einer nicht festgelegten Geschlechtsidentität entwickelt. Nachdem das Buch und weitere Texte zur „Queer Theory“ erschienen waren, gab es ein bestimmtes Milieu, das ich mal als „kalifornisch“ bezeichnen würde, das die Vorstellung einer festgelegten Geschlechts - identität ablehnte. Das bewegte sich weg von der Art Feminismus, mit der ich aufgewachsen bin und bei der es um soziale Gerechtigkeit ging. Einige Transsexuelle haben sich diesem Milieu angeschlossen, das auch stark um die Homosexuellen- Bewegung kreiste. In der zweiten Hälfte der 1990er kam dann der Begriff LGBT auf (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender), der inzwischen eine Art eigene Identität geworden ist. Dieser Begriff ist aber „entgendert“. Der Mensch ist nicht mehr Mann oder Frau, sondern „LGBT“. Und ich denke, dass dieser Vorfall mit den „Vagina Monologen“ aus diesem Milieu kam. Es bekümmert mich, wenn ich höre, dass es da einen Kampf mit einem feministischen Projekt wie den „Vagina Monologen“ gibt. So ein wunderbares Theaterstück!

Was müsste passieren, damit solche Konflikte deeskalieren?
Zunächst einmal sind ja eine ganze Reihe transsexuelle Frauen Feministinnen. Und eine ganze Reihe Feministinnen unterstützen transsexuelle Frauen. Ich glaube, dass eine wichtige Herausforderung für Feministinnen ist, transsexuelle Frauen nicht als eine Art „drittes Geschlecht“ zu denken. Sondern als Teil der Vielfalt von Frauen, wie junge oder alte Frauen, Frauen mit Behinderung oder Frauen mit Migrationshintergrund.

In den 1970ern haben Feministinnen die These aufgestellt, dass es „in einer nichtpatriarchalen Welt ohne Geschlechterzwänge keinen Transsexualismus gäbe.“ Sie haben diese These als „feindselig“ bezeichnet.
Weil sie impliziert, dass Leute wie ich nicht existieren sollten. Das ist ein bisschen schwer auszuhalten. Denn ich existiere ja.

Aber war mit diesem Satz nicht eher gemeint, dass all der Schmerz, den Sie selbst beschreiben, womöglich nicht notwendig wäre, wenn jeder Mensch die Freiheit hätte, ohne Geschlechterrolle zu leben, in der er oder sie leben möchte?

Wenn wir tatsächlich eines Tages eine Gesellschaft hätten, in der das Geschlecht nicht repressiv ist, kann ich mir vorstellen, dass wir in einer gegenderten Welt leben würden, die nicht hierarchisch ist. Das ist eine umstrittene Position. Es gibt auch die Version, dass es beim Thema Geschlecht per se um Machtverhältnisse und Ungleichheit geht. Ich glaube allerdings, dass es eine Geschlechter-Gerechtigkeit geben könnte, die nicht gleichzeitig die Auflösung oder Dekonstruktion von Geschlecht beinhaltet. Dazu gehört, dass wir die Definition von „Weiblichkeit“ weiter ausdehnen um Bereiche, die wir normalerweise Frauen nicht zuordnen wie: naturwissenschaftliche Begabung, Entscheidungsfreudigkeit, Rationalität etc.

Damit korrespondierend erweitern wir die Definition von „Männlichkeit“ um Bereiche wie Sensibilität oder Fürsorglichkeit. Das schafft die Kategorie Geschlecht nicht ab, sondern erweitert einfach die jeweiligen Möglichkeiten jedes Geschlechts. Ich kann mir also eine Welt vorstellen, die gegendert ist, aber nicht repressiv. Und ich glaube, dass es auch in einer solchen Welt eine gewisse Zahl Menschen gäbe, die sich in einem Zustand der „gender contradiction“ befinden und eine Transition machen möchten. Meine Hoffnung wäre, dass diese geschlechtergerechte Gesellschaft in der Lage wäre, diesem Bedürfnis ohne Traumatisierung der Betroffenen gerecht zu werden.






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