Donnerstag, 6. September 2018

Lassen sich viele Jugendliche nur einreden, dass sie das falsche Geschlecht haben?Das ist kein Spleen /// Can many young people only be persuaded that they have the wrong sex?

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Geschrieben und Bearbeitet von Nikita Noemi Rothenbächer 2018
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Das ist kein Spleen
"Geschlechtsatypisches Verhalten" kommt nicht ganz selten vor

Auch in der Schule wurde es komplizierter. Anders als in der Grundschule durfte das Kind auf dem Gymnasium beim Schwimmunterricht nicht mehr in Badehose erscheinen, es sollte einen Badeanzug tragen – und schämte sich, als würde es nackt schwimmen. "Da wusste ich, dass jetzt ein Schnitt notwendig war", sagt Tanja Grabow. Sie suchte Hilfe im UKE. Das Behandlungsteam dort entschloss sich, Marks körperliche Entwicklung zur Frau mithilfe von Hormonen anzuhalten.

Ärzte der Freien Universität Amsterdam waren die ersten, die Mitte der neunziger Jahre diese sogenannten Pubertätsblocker einsetzten. Die Hormone funktionieren wie ein Stoppknopf für die körperliche Entwicklung. Sie verhindern das Brustwachstum bei Mädchen und Bartwuchs sowie Stimmbruch bei Jungen – all jene Geschlechtsmerkmale also, die man später nur mit großem operativem Aufwand und niemals ohne bleibende Spuren wieder beseitigen kann. Gleichzeitig sollen die Pubertätsblocker den Heranwachsenden die Chance geben, sich eine Zeit lang in ihrem neuen Geschlecht auszuprobieren – würden sie weggelassen, ginge die Pubertät weiter. Anfangs gab es viel Kritik daran, schon Kindern Hormone zu verabreichen. Mittlerweile hat sich das Dutch protocol in vielen Behandlungszentren durchgesetzt.

Doch nicht in allen. Alexander Korte, Kinderpsychiater an der Münchner Uni-Klinik, verschreibt keine Pubertätsblocker. Transgenderaktivisten dient er deshalb als Feindbild. Kortes These: Nur wer die Pubertät erlebt hat, kann wissen, ob er sich als Mann oder Frau versteht. "Diese Zeit kann so viel ändern", sagt der Mediziner und verweist auf Untersuchungen. Diese zeigen, dass nur eine Minderheit von den Kindern (je nach Studie zwischen 10 und 27 Prozent), die Hilfe bei einem Spezialisten suchen, sich später wirklich als transsexuell erweist.

Lassen sich viele Jugendliche nur einreden, dass sie das falsche Geschlecht haben?

Tatsächlich kommt bei Kindern ein sogenanntes "geschlechtsatypisches Verhalten" nicht ganz selten vor. In den meisten Fällen geht es aber spätestens in der Grundschule zurück. Hält es an, können dahinter auch erste Anzeichen einer späteren Homosexualität stecken. "Behandelt man die Heranwachsenden zu früh, nehmen wir ihnen die Chance, das herauszufinden", sagt Korte. "Das ist dann ein Homosexualitätsverhinderungsprogramm."

Denn in der Praxis folgt dem ersten Behandlungsschritt – der Blockade der Pubertät – ein paar Jahre später so gut wie immer der zweite: die Umwandlung des Körpers mit gegengeschlechtlichen Sexualhormonen. Mark bekommt seit einem halben Jahr Testosteron. Jeden Morgen streicht er sich ein Hormon-Gel auf den Oberarm. Das Testosteron wird seine Stimme tiefer machen und in seinem Gesicht Haare sprießen lassen. Auf der pickligen Stirn sind die ersten Wirkungen des Gels schon zu sehen.

In den offiziellen Leitlinien zur Behandlung steht, dass man frühestens mit 16 Jahren die gegengeschlechtliche Therapie beginnen lassen soll. Doch daran halten sich die meisten Behandler schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Mitunter beginnen sie die hormonelle Prozedur sogar schon mit 13 Jahren, Mark war 14 Jahre alt. Alexander Korte spricht von einer "gefährlichen Einbahnstraße".

Hört man dem Münchner Psychiater länger zu, klingt die Befreiungsgeschichte immer mehr nach einer Verfallsgeschichte. Hinter mancher vermeintlichen Störung der Geschlechtsidentität wittert Korte andere psychische Probleme, verursacht durch prekäre Lebensumstände oder gestörte Beziehungen zu den Eltern. "Besonders schwer erklärbar" findet er die gestiegenen Behandlungszahlen bei Mädchen. Kamen früher meist Jungen im Grundschulalter in die Praxen, sind es heute weit überwiegend Mädchen, viele im Teeniealter. Auch das ist ein weltweites Phänomen; das Journal of Sexual Medicine schrieb kürzlich von einer regelrechten "Umkehrung der Behandlungszahlen", in einigen Zentren liege die Rate bereits bei eins zu vier.

Dass Mädchen im Schnitt später in die Praxen kommen als Jungen, muss nicht verwundern. Ein Junge in Rock oder Kleid fällt eben weit mehr auf als ein Mädchen mit Hosen. Am Ende aber sollten sich die Behandlungszahlen eigentlich angleichen. Tun sie aber bisher nicht. Kommt Transidentität also bei Mädchen von Natur aus häufiger vor? Oder reden sich viele von ihnen nur ein, im falschen Körper zu stecken? Gibt es einen von den Medien verursachten Hype? Ist Trans chic?

Der Zuwachs steht für einen grundlegenden Einstellungswandel. Traditionell waren gerade Heranwachsende auf klar definierte Geschlechterrollen fixiert: Jungen wollten richtige Männer werden, Mädchen richtige Frauen. Wich jemand von den Erwartungen ab, kannten die anderen Jugendlichen wenig Gnade. Inzwischen haben sich die starren Geschlechtsbilder immer weiter aufgelöst.

Heute wagen es viel mehr Jugendliche, sich zu offenbaren und Hilfe in Anspruch zu nehmen

Mittlerweile gehören schwule und lesbische Lebensformen zum modernen Biologieunterricht wie Pille und Präservativ. In den Medien wird die sexuelle Vielfalt geradezu gefeiert. Hübsche Frauen mit Bart gewinnen dort Gesangswettbewerbe, Serienhelden spielen transsexuelle Familienväter (Transparent). Mittlerweile gibt es nicht nur Kinderromane(George) zum Thema, sondern auch Bilderbücher (Teddy Tilly).Rechtskonservative mögen den "Genderwahn auf dem Lehrplan" geißeln, wie sie es zurzeit in Hessen tun. Die Kids haben damit aber wenig Probleme. Während mancher Erwachsener LGBT noch für einen Mobilfunkstandard hält, entziffern sie mühelos den Buchstabensalat als Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender – und ergänzen dabei noch flink ein Q für Queer.

Angesichts dieses Liberalisierungsschubs wagen es heute viel mehr Jugendliche, sich zu offenbaren und Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie mit ihrem Geschlecht hadern. Dabei erweisen sich viele von ihnen schon als überaus kundig, sagt Saskia Fahrenkrug. Früher seien die transidenten Jugendlichen nur mit ihrer Verzweiflung in die Sprechstunde gekommen. Heute würden sie zum ersten Termin schon "die Spezialnamen des Hormons mitbringen, das sie für ihre Geschlechtsanpassung bitte sofort haben möchten". Diese Patienten müsse man erst einmal bremsen, so die UKE-Psychologin.

In den vergangenen Jahren hat sich im Internet eine Szene entwickelt mit Foren und YouTube-Filmen. Im Schutz der Anonymität können Transjugendliche hier Gefühle teilen, ihre neue Rolle austesten und Spezialinformationen weitergeben. Viele von ihnen haben dann ihr Coming-outschon hinter sich, wenn sie zur ersten Beratung in der Praxis erscheinen. Vor 20 Jahren hat es das so gut wie nicht gegeben.

Tanja Grabow half ein Film aus dem Netz, Marks Lehrern die neue Identität ihres Sohnes zu erklären. Dabei hatte die Mutter gar nicht damit gerechnet, dass Mark auf der Schule bleiben konnte. Ein Sportgymnasium für Basketball, Leichtathletik und Turnen, so dachte sie, sei nicht der richtige Ort für ein Coming-out. Der Direktor aber wollte von einem Schulwechsel nichts wissen. "Das kriegen wir hin", sagte er. Auch Marks Auftritt vor seiner Klasse war leichter als befürchtet. Eine kurze Ansage, gefolgt von zwei, drei Nachfragen der Mitschüler, dann war die Sache erledigt. Wenn ein Lehrer in der Folgezeit noch einmal Leonie sagte, musste Mark ihn nicht verbessern. Das übernahmen seine Mitschüler.

Schikanen, blöde Sprüche, Mobbing? Weder Mark noch seine Mutter können sich daran erinnern. Der Einzige, der massive Zweifel äußerte, war Marks von der Familie getrennt lebender Vater. Bis vor Gericht musste die Mutter ziehen, um gegen den Vater Marks Vornamenswechsel durchzusetzen. Bis heute will der Vater nicht recht wahrhaben, dass seine Tochter ein Sohn ist. "Ansonsten läuft es bisher aber gut", sagt Tanja Grabow. "Das hat mich selbst gewundert."

Mark ist mitnichten nur ein geglückter Einzelfall. Zwar gibt es weiterhin Unsicherheit bei Lehrern, etwa ob sie auf dem Zeugnis den neuen Namen übernehmen dürfen (ist erlaubt). Mitunter kommt es auch zu Problemen bei der Frage, welche Toilette der Transjugendliche benutzen darf. "Insgesamt aber machen die meisten inzwischen positive Erfahrungen", sagt der Hamburger Hormonspezialist Achim Wüsthof. Als besonders gelungenes Beispiel erzählt er die Geschichte eines Lehrers. Er berichtet seiner Klasse, dass ein Schüler die Klasse verlassen werde, dafür aber eine neue Schülerin komme. "Das Besondere ist: Es handelt sich um denselben Menschen", sagt der Lehrer. Dann stellt er einen Begrüßungskuchen auf das Pult mit dem Wunschnamen des Mädchens.

All das bedeutet freilich nicht, dass junge Menschen wie Mark es leicht haben. Das Gefühl, dass ihr Körper nicht zu ihnen passt, verwirrt und bleibt schmerzhaft. Spätestens wenn die Pubertät naht, wächst das Unbehagen zum Grauen. Plötzlich merken sie es: Was verniedlichend "der kleine Unterschied" genannt wird, teilt in Wirklichkeit die Menschheit. Vor dem Coming-out, als Mark noch Leonie hieß, ging lange Zeit alles gut. Haarschnitt und Hosen sorgten dafür, dass er als Junge durchging. Was aber, wenn unter dem Hemd plötzlich Brüste wachsen?

Auch in der Schule wurde es komplizierter. Anders als in der Grundschule durfte das Kind auf dem Gymnasium beim Schwimmunterricht nicht mehr in Badehose erscheinen, es sollte einen Badeanzug tragen – und schämte sich, als würde es nackt schwimmen. "Da wusste ich, dass jetzt ein Schnitt notwendig war", sagt Tanja Grabow. Sie suchte Hilfe im UKE. Das Behandlungsteam dort entschloss sich, Marks körperliche Entwicklung zur Frau mithilfe von Hormonen anzuhalten.

Ärzte der Freien Universität Amsterdam waren die ersten, die Mitte der neunziger Jahre diese sogenannten Pubertätsblocker einsetzten. Die Hormone funktionieren wie ein Stoppknopf für die körperliche Entwicklung. Sie verhindern das Brustwachstum bei Mädchen und Bartwuchs sowie Stimmbruch bei Jungen – all jene Geschlechtsmerkmale also, die man später nur mit großem operativem Aufwand und niemals ohne bleibende Spuren wieder beseitigen kann. Gleichzeitig sollen die Pubertätsblocker den Heranwachsenden die Chance geben, sich eine Zeit lang in ihrem neuen Geschlecht auszuprobieren – würden sie weggelassen, ginge die Pubertät weiter. Anfangs gab es viel Kritik daran, schon Kindern Hormone zu verabreichen. Mittlerweile hat sich das Dutch protocol in vielen Behandlungszentren durchgesetzt.

Doch nicht in allen. Alexander Korte, Kinderpsychiater an der Münchner Uni-Klinik, verschreibt keine Pubertätsblocker. Transgenderaktivisten dient er deshalb als Feindbild. Kortes These: Nur wer die Pubertät erlebt hat, kann wissen, ob er sich als Mann oder Frau versteht. "Diese Zeit kann so viel ändern", sagt der Mediziner und verweist auf Untersuchungen. Diese zeigen, dass nur eine Minderheit von den Kindern (je nach Studie zwischen 10 und 27 Prozent), die Hilfe bei einem Spezialisten suchen, sich später wirklich als transsexuell erweist.

Lassen sich viele Jugendliche nur einreden, dass sie das falsche Geschlecht haben?

Tatsächlich kommt bei Kindern ein sogenanntes "geschlechtsatypisches Verhalten" nicht ganz selten vor. In den meisten Fällen geht es aber spätestens in der Grundschule zurück. Hält es an, können dahinter auch erste Anzeichen einer späteren Homosexualität stecken. "Behandelt man die Heranwachsenden zu früh, nehmen wir ihnen die Chance, das herauszufinden", sagt Korte. "Das ist dann ein Homosexualitätsverhinderungsprogramm."

Denn in der Praxis folgt dem ersten Behandlungsschritt – der Blockade der Pubertät – ein paar Jahre später so gut wie immer der zweite: die Umwandlung des Körpers mit gegengeschlechtlichen Sexualhormonen. Mark bekommt seit einem halben Jahr Testosteron. Jeden Morgen streicht er sich ein Hormon-Gel auf den Oberarm. Das Testosteron wird seine Stimme tiefer machen und in seinem Gesicht Haare sprießen lassen. Auf der pickligen Stirn sind die ersten Wirkungen des Gels schon zu sehen.

In den offiziellen Leitlinien zur Behandlung steht, dass man frühestens mit 16 Jahren die gegengeschlechtliche Therapie beginnen lassen soll. Doch daran halten sich die meisten Behandler schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Mitunter beginnen sie die hormonelle Prozedur sogar schon mit 13 Jahren, Mark war 14 Jahre alt. Alexander Korte spricht von einer "gefährlichen Einbahnstraße".

Hört man dem Münchner Psychiater länger zu, klingt die Befreiungsgeschichte immer mehr nach einer Verfallsgeschichte. Hinter mancher vermeintlichen Störung der Geschlechtsidentität wittert Korte andere psychische Probleme, verursacht durch prekäre Lebensumstände oder gestörte Beziehungen zu den Eltern. "Besonders schwer erklärbar" findet er die gestiegenen Behandlungszahlen bei Mädchen. Kamen früher meist Jungen im Grundschulalter in die Praxen, sind es heute weit überwiegend Mädchen, viele im Teeniealter. Auch das ist ein weltweites Phänomen; das Journal of Sexual Medicine schrieb kürzlich von einer regelrechten "Umkehrung der Behandlungszahlen", in einigen Zentren liege die Rate bereits bei eins zu vier.

Dass Mädchen im Schnitt später in die Praxen kommen als Jungen, muss nicht verwundern. Ein Junge in Rock oder Kleid fällt eben weit mehr auf als ein Mädchen mit Hosen. Am Ende aber sollten sich die Behandlungszahlen eigentlich angleichen. Tun sie aber bisher nicht. Kommt Transidentität also bei Mädchen von Natur aus häufiger vor? Oder reden sich viele von ihnen nur ein, im falschen Körper zu stecken? Gibt es einen von den Medien verursachten Hype? Ist Trans chic?

Auf diese Fragen hat bislang kein Experte eine rechte Antwort, auch Bernd Meyenburg nicht. Er hält die frühe Behandlung dennoch für absolut richtig. "Auch mir erschien der Ansatz anfangs zu radikal", sagt der Psychiater. "Heute weiß ich, dass wir damit viel Leid verhindern." Er sieht den Leidensdruck seiner jungen Patienten – und er weiß, wie sehr viele erwachsene Transsexuelle, denen ihr altes Geschlecht bis heute ins Gesicht geschrieben steht, ihre jungen Schicksalsgenossen um deren frühe Behandlung beneiden.
Der Hamburger Hormonspezialist Achim Wüsthof sieht es ähnlich: "Das Risiko, die Pubertät abzuwarten, ist viel größer, als sich bei der Diagnose zu irren. Das zeigen mir die Verläufe der vergangenen 15 Jahre." Der Arzt kennt aus seiner Praxis nur eine einzige Betroffene, die sich nach der Geschlechtsangleichung wieder umentschieden hat: vom Mädchen zum Jungen und später zurück zur jungen Frau, doppelte Namensänderung inklusive.

Größere Langzeitstudien, welche die Transjugendlichen später über Jahrzehnte begleiten, fehlen aber bislang. Dafür ist die Methode der frühen Intervention noch zu jung. Auch hat die Wissenschaft noch keine verlässlichen genetischen oder körperlichen Besonderheiten entdeckt, an denen man transsexuelle Menschen erkennen kann. Klar ist immerhin so viel: Je früher die Kinder meinen, dass ihr Körper nicht zu ihrem gefühlten Geschlecht passt, je bestimmter sie nicht nur sagen, dass sie gern ein Junge wären , sondern dass sie ein Junge (oder Mädchen) sind ,und je länger sie in ihrer gewünschten Identität leben – desto sicherer ist die Diagnose.

Mark und seine Mutter sind sich ganz sicher. Der Junge hat viele Freunde, in der Schule kommt er gut zurecht. Die offizielle Namensänderung bei den Behörden ist jetzt durch. Wenn er volljährig ist, steht der dritte und definitive Behandlungsschritt an: die endgültige Geschlechtsangleichung durch eine Operation. Darüber will Mark sich aber heute noch keine Gedanken machen. Viel zu weit weg. Wichtiger ist, dass er mit seiner Basketballmannschaft diese Saison aufsteigen könnte. Manchmal reden sie in der Familie eine Woche oder länger gar nicht über die Sache. Tanja Grabow findet das gut: "Man muss daraus ja kein Lebensthema machen."







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