„Innerhalb weniger Jahre hat sich die Zahl der minderjährigen Patienten auf über 3000 vervielfacht“
10. Februar, 18 Uhr, ein unscheinbares Gewerbegebiet in Berlin-Moabit. Hier steht ein mehrstöckiges Gebäude der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Polizeibeamte untersuchen, ob auch wirklich alle Türen verschlossen wurden. Sie fragen bei einem Studenten nach, ob alle Fluchtwege sicher sind. Sollte es im Hörsaal Randale geben, sagt ein Polizeibeamter, dann würden seine Kollegen und er sofort hochkommen.
Denn dieser Freitagabend versprach militant zu werden. Der britische Psychoanalytiker David Bell, der als Whistleblower einen Skandal um die Transgender-Klinik Tavistock aufgedeckt hatte, sollte in zwei Stunden seinen Vortrag halten. Der Titel: „First Do No Harm“, zu deutsch „Füge zuallererst keinen Schaden zu.“ Die Forderung an den Arzt, dass er seinem Patienten keinen Schaden zufügen solle, hatte der Arzt Hippokrates von Kos bereits vor über zweitausend Jahren formuliert. Sie ist Teil des Hippokratischen Eides, der bis heute als Grundlage der Medizinethik gilt.
Denn dieser Freitagabend versprach militant zu werden. Der britische Psychoanalytiker David Bell, der als Whistleblower einen Skandal um die Transgender-Klinik Tavistock aufgedeckt hatte, sollte in zwei Stunden seinen Vortrag halten. Der Titel: „First Do No Harm“, zu deutsch „Füge zuallererst keinen Schaden zu.“ Die Forderung an den Arzt, dass er seinem Patienten keinen Schaden zufügen solle, hatte der Arzt Hippokrates von Kos bereits vor über zweitausend Jahren formuliert. Sie ist Teil des Hippokratischen Eides, der bis heute als Grundlage der Medizinethik gilt.
David Bell greift diese hippokratische Tradition aus einem ganz bestimmten Anlass auf: In der Londoner Tavistock-Klinik, der einzigen für Kinder, die sich einem anderen Geschlecht zuordnen lassen wollen, wurden seit Mitte der 1990er-Jahre im Eilverfahren Pubertätsblocker und Hormontherapien verschrieben. Beraten wurden sie selten oder gar nicht. Von den mehreren tausend Kindern, denen die Hormone verschrieben wurden, bereuten später viele ihre Entscheidung und suchten den Weg zurück in ihr früheres Geschlecht. Die berühmteste von ihnen ist Keira Bell, eine junge Frau, die die Klinik 2020 erfolgreich verklagt hat.
Mehr als ein Jahr zuvor ging David Bell, Mitglied des Direktoriums der Klinik, mit einem internen Bericht über die dortigen Missstände an die Öffentlichkeit. Bell hatte Erfolg: Nach einer detaillierten Aufarbeitung wurde entschieden, die Klinik zu schließen.
Während Bell das Universitätsgebäude in Berlin-Moabit betritt, ist es noch ruhig. Doch die Stimmung unter den freiwilligen Orga-Helfern ist angespannt. Schon vor Wochen hatten Aktivisten gegen Bells Vortrag eine Kundgebung angemeldet. Das Motto: „First do no TERF propaganda“ – zu Deutsch „Mach zuallererst keine TERF-Propaganda“. Die Abkürzung TERF steht in queer-feministischen Kreisen für die Bezeichnung„Trans Exclusionary Radical Feminist.“ Gemeint sind sogenannte Radikalfeministinnen, die Transgender-Personen von ihrem Kampf um Gleichberechtigung ausschließen würden.
Entsprechend machten linke Gruppen im Vorfeld gegen den Vortrag mobil: Das Twitter-Profil „Cis for Trans“, geleitet von der Trans-Aktivistin Eva Mahr, bezichtigte Bell der Agitation für homophobe „Konversionstherapien“, die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI) nannte Bell einen „Verschwörungstheoretiker“, die Klima-Extremistengruppe „Ende Gelände“ schimpfte Bell einen „Antifeministen.“ Es sei sogar aus Aktivistenkreisen damit gedroht worden, die Veranstaltung zu sprengen, so ein IPU-Mitarbeiter gegenüber WELT. Daraufhin habe man sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt.
Mehr betroffene Mädchen
Um 19 Uhr finden sich auf dem Vorplatz des Universitätsgebäudes die ersten Demonstranten ein. Sie breiten ihr Transparent aus, die Botschaft: „Protect Trans*Youth“ – zu Deutsch „Schützt Trans-Jugendliche“.
Haben sich die Demonstranten mit dem Thema des Vortrags auseinandergesetzt? Mehrere von ihnen bejahen diese Frage des Reporters. Sie sagen, sie störten sich vor allem an vagen Begriffen wie denjenigen der „Trans-Lobby“ oder der „Trans-Ideologie“, die Bell immer wieder verwendet. Dabei beziehen sie sich auf den wissenschaftlichen Aufsatz „First Do No Harm“, den Bell 2020 in der psychoanalytischen Fachzeitschrift „The International Journal Of Psychoanalysis“ veröffentlicht hatte.
Der Reporter spricht mit einer Demonstrantin. Er fragt: Ob sie sich mit dem Fall der Tavistock-Klinik beschäftigt habe? Nein, das habe sie nicht, sagt sie. Ob sie sich vorstellen könne, mit Bell über seine Thesen zu diskutieren? Auch das verneint sie. Aber sicher würde es Leute auf der Demo geben, die damit kein Problem hätten.
Studenten wie Max zum Beispiel, der mit dem Anliegen der Demonstranten sympathisiert. Max kritisiert, dass Bell nur vier Fachpublikationen in seinem Aufsatz zitiere – darunter eine von ihm selbst. Bell könne zudem nicht glaubhaft belegen, dass seine Erfahrungen an der Tavistock-Klinik exemplarisch für einen generellen Missstand stünden. Max möchte nur dann mit dem Reporter sprechen, wenn er nicht mit Klarnamen genannt wird. Sein wahrer Name ist der Redaktion bekannt.
Um 20 Uhr endet langsam der Einlass, die Teilnehmerliste für den Vortrag ist weitgehend abgearbeitet. Für angemeldete Studenten und Journalisten ist der Eintritt gratis, Externe müssen acht Euro Eintritt zahlen. Auch Max kommt hoch ins zweite Obergeschoss, wo der Vortrag stattfindet. Langsam füllt sich der Saal, das Publikum ist durchmischt. Vom grauhaarigen Professor bis zum Erst- oder Zweitsemester sind alle Altersgruppen anwesend, der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt.
Bells Vortrag lässt sich im Wesentlichen an drei Schwerpunkten festmachen. Erstens sei Freuds Begriff des Unbewussten in der gegenwärtigen Psychoanalyse einem beispiellosen Angriff ausgesetzt, so Bell. Wer zu bedenken gebe, dass der Transitionswunsch eines Kindes auf unbewusste Konflikte verweise, der werde aus dem Diskurs ausgeschlossen. Denn die „Trans-Lobby“ habe dafür gesorgt, dass jeder Zweifel als „Ketzerei“ verteufelt werde.
Zweitens habe sich bei vielen Ärzten die Auffassung durchgesetzt, komplexe psychische Probleme wie beispielsweise Depressionen bei Kindern ließen sich ganz einfach dadurch lösen, dass sie den Kindern Pubertätsblocker oder gegengeschlechtliche Hormone geben. Und drittens sei der Trend erkennbar, dass es weitaus mehr Mädchen geben würde, die zu Jungen werden wollten als umgekehrt. Das habe vor allem gesellschaftliche Gründe.
In der anschließenden Debatte kritisiert ein Zuhörer, dass sich Bell in seiner Kritik zu sehr auf soziologische Gesichtspunkte fokussiert habe. Bell habe viel davon gesprochen, wie Patienten gesellschaftliche Tendenzen internalisieren würden; dass auch innere psychische Bedürfnisse nach außen projiziert würden, das wäre bei Bell auf der Strecke geblieben. David Bell gibt dem Mann recht.
Und tatsächlich: Dass Bells Vortrag eine sozialkritische Schlagseite hat, wurde schon in den ersten Minuten klar. So kritisiert er, dass der Typus des „männlichen Unternehmers“ im neoliberalen Kapitalismus derart überhöht werde, dass immer mehr Menschen „weiblich“ konnotierte Eigenschaften (wie etwa die Mütterlichkeit) verachten würden. Ebenfalls habe die enorme Reichweite von Internet-Pornografie bewirkt, dass ein misogynes Frauenbild gesellschaftsfähig geworden sei. Beides führe dazu, dass viele pubertäre Mädchen begännen, ihren Körper zu hassen – und sich vermehrt für Transitionen entschieden.
Und Bell geht noch weiter. Dass sich Kinder spielerisch in verschiedenen Geschlechterrollen ausprobierten, das werde heute automatisch als Anzeichen für angebliche Transsexualität gewertet – wodurch die kindliche Geschlechtsidentifikation in ein rückschrittliches, binäres Schema gepresst werde. Das verdeutlicht Bell anhand eines Beispiels: Aktivisten der „Trans-Lobbys“, wie etwa des Elternvereins „Mermaids“, würden an britischen Schulen Mädchen sagen, dass sie „eigentlich“ Jungen seien, wenn sie gerne Fußball spielen würden. Umgekehrt würden Jungen gesagt bekommen, sie seien „eigentlich“ Mädchen, wenn sie lieber mit Puppen als mit Spielzeugautos spielen. Und viele der Kinder, die keine Hormone verschrieben bekämen, würden im Erwachsenenalter glücklich als Homosexuelle leben.
Heftiger Widerspruch
Für seine Thesen erntet Bell heftigen Widerspruch, auch Max meldet sich zu Wort. Er kritisiert, dass Bell Kinder mit Transitionswunsch tendenziell als „pseudo-trans“ abstempeln würde. Das passe nicht zu der von ihm beanspruchten neutralen Position, meint Max. Und wen genau meine er mit den „Trans-Lobbys“? Vermute er dahinter verborgene Interessen? Oder seien diese Menschen seiner Auffassung nach einfach verrückt?
Was er mit dem Begriff der „Trans-Lobby“ meine, „das hätte ich genauer erklären müssen“, gibt Bell zu. Er wisse nicht, ob es für trans-aktivistische Organisationen, die Kinder zur Transition ermutigten, irgendwelche „Meta-Motive“ gäbe. David Bell, der kleine Dreiundsiebzigjährige mit grauem Pullover, fragt ins Mikrofon: „Liebes Publikum, können Sie mir in dieser Frage weiterhelfen?“
Max ist von dieser Antwort enttäuscht. Nach dem Vortrag, die Zuhörer bedienen sich in einem Nebenraum am Wein und an den Brezeln, nimmt er das Gespräch mit Bell wieder auf. Ob Bell der Ansicht sei, jede Form von Transsexualität sei per se pathologisch? Bell gibt den Vorwurf, Transgender-Personen zu pathologisieren, an die Trans-Aktivisten zurück. Wie könne man eine medikamentöse Behandlung für ein Leiden einfordern und gleichzeitig behaupten, es handle sich nicht um eine pathologische Erscheinung?
Als sich das Publikum langsam auf den Weg macht, erhält der Reporter von einem Studenten eine Einladung. Morgen früh von 9 bis 11 Uhr werde das studentische Magazin „Signorelli“ eine Diskussionsveranstaltung mit Bell veranstalten.
Gegen Mitternacht sind die Demonstranten und die Polizisten bereits verschwunden. Ein Orga-Helfer der IPU berichtet, die Demonstration sei komplett friedlich verlaufen. Von der Antifa oder von den Klima-Extremisten sei anscheinend niemand da gewesen. Und er erzählt, dass ihn einer der Polizeibeamten gefragt habe: „Wogegen demonstrieren die Leute hier eigentlich? Sie wollen doch das gleiche wie der Referent.“
Womöglich bezog sich der Beamte auf das Transparent „Beschützt Trans-Jugendliche“ – ein Anliegen, für das sich sowohl die Aktivisten auch David Bell gemäß ihrem Selbstverständnis stark machen. Die Aktivisten kritisieren, dass der medizinische Betrieb die Bedürfnisse von Trans-Jugendlichen nicht ernst genug nehme. Und Bell behauptet, Transitionskliniken wie Tavistock würden junge Menschen zu Konsumenten einer Hormontherapie machen, deren Folgen unabsehbar seien.
Am Tag darauf trifft man sich im gleichen Raum, in dem am Vortag Wein ausgeschenkt wurde. David Bell und den Reporter eingerechnet befinden sich nicht einmal ein Dutzend Studenten im Raum. Einige waren schon beim Vortrag anwesend, andere kennen Bells Texte, waren aber am Vortag nicht da. Zunächst berichtet Bell den Studenten von seinem Werdegang als Psychiater und Psychoanalytiker.
Er erzählt von der Zeit, als die Tavistock-Klinik noch einen guten Ruf hatte – und die Gesamtzahl der minderjährigen Patienten auf fünfzig Kinder und Jugendliche beschränkt war. Dann, innerhalb weniger Jahre, habe sich die Zahl der minderjährigen Patienten auf über 3000 vervielfacht. Die Bedürfnisse der Kinder hätten keine Rolle mehr gespielt, die psychoanalytische Tradition der Klinik sei unter die Räder gekommen, Diskussionen hätte es nicht mehr gegeben, immer mehr Ärzte hätten gekündigt. Und die Klinik habe massiv am Verschreiben von Geschlechtshormonen verdient.
Wieder geht Bell auf die kritischen Fragen der Studenten ein. Und er bedankt sich: „Ich wurde selten so gründlich befragt wie nach diesem Vortrag. Es war sehr interessant. Danke.“
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